Lesendes Publikum
ORF/Johannes Puch
ORF/Johannes Puch

Angeregte Diskussionen am letzten Lesetag

Am letzten Lesetag überzeugte Yevgeniy Breyger mit seinem „extrem poetologischen“ Text, Mario Wurmitzer punktete mit seiner Kapitalismuskritik. Laura Leupi rüttelte mit einem Text über sexuelle Gewalt auf, während Deniz Utlu bei der Jury durchfiel.

Unter bedrohlichen Wolken und bei deutlich niedrigeren Temperaturen als in den vergangenen Tagen startete der dritte und letzte Lesetag im Rahmen der 47. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Der Vormittag, an dem das Publikum im Garten dem Regen mit Schirmen trotzte, brachte eine Auseinandersetzung mit der Suche nach Halt in der Sprache bei Yevgeniy Breyger und dem von Kameras beobachteten Schreiben in einer Musterhaussiedlung bei Mario Wurmitzer. Am Nachmittag fand der Text von Laura Leupi über sexualisierte Gewalt viel Anklang. Als letzter las Deniz Utlu, der von der Jury überwiegend nicht allzu gut bewertet wurde.

Yevgeniy Breyger mit einem Familientrauma

Yevgeniy Breyger las auf Einladung von Insa Wilke den Text „Die Lust auf Zeit“. Er wurde in Charkiw (Ukraine) geboren und übersiedelte 1999 mit seiner Familie nach Deutschland. Der Text handelt von einem Mann, der im Krankenhaus wartet, in dem sei Vater wegen eines Schlaganfalls liegt. Er ringt um den Mut, zu ihm ins Zimmer zu gehen, sinniert über seine Familiengeschichte, den Urgroßvater, der im Gulag in Sibiren war, weil er einen Witz über Stalin gemacht hatte.

Yevgeniy Breyger
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Yevgeniy Breyger

Mara Delius sagte: „Danke für die ruhige, klare Lesung“. Wenn man sich den Text oberflächlich anschaue, finde man eine Familiengeschichte, das Älterwerden, die Weitergabe von Traumata in einer Familie, Eigen- und Fremdwahrnehmung. Sie finde spannend, dass es in diesem Jahr viele Texte mit Mikrodetails und Räumen gebe. „Ich fand den Text sehr interessant, weil er von Erinnerung auf unterschiedlichen Ebenen handelt.

Preisverleihung am Sonntag

Der Livestream ist am Sonntag ab 11.00 Uhr wieder aktiv, wenn die Preisverleihung startet.

Thomas Strässle: „Ich habe mich gefragt, was geschieht hier eigentlich, es ist nicht sehr viel, der Text hat auf einem Fingernagel Platz.“ Es sei ein endlos gedehnter Moment der Zeitlosigkeit. Man wisse nicht, seien es Minuten, Stunden, Tage, an denen er warte. „Was bedeutet Entscheidung“ steht im Text, wie treffe das Ich die Entscheidung, den Raum zu betreten. Es hat etwas Kafkaeskes, warum hast du so lange gewartet.

Klaus Kastberger sagte, Herr Breyger sei als Lyriker weithin bekannt und Insa Wilke habe ein ungeheures Talent, Lyriker zum Prosaschreiben zu bringen. „Man braucht Geduld mit dem Text, man muss sich einlassen und darf nicht nervös werden.“ Es gebe nur eine minimalste Handlung, der Text frage nach den Grundlagen der Erzählung. Mithu Sanyal sagte, alles verschwimme und setze sich neu zusammen, man gehe mit der Wahrnehmung des Erzählers mit. Der Text stelle für sie die Frage, was können Kurzgeschichten, sie hoffe, dass er Teil eines Größeren sei. „Ich möchte mehr.“

Tingler meinte, am interessantesten finde er die Idee der akuten Gesellschaft, „das ist nur das, was in diesem Zimmer Platz hat“. Ansonsten hatte er eher so einen Mithu Sanyal Moment mit diesem Text: „Der Text erreicht mich nicht.“ Er sei in sich hermetisch, er sei befangen im Ich. Der Text sei so mittel. Kastberger konterte, wenn Tingler ihn mittel finde, dann bekomme der Text sicher den Bachmannpreis – mehr dazu in Jurydiskussion Yevgeniy Breyger, UKR/D.

Mario Wurmitzer Lesung
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Mario Wurmitzer

Mario Wurmitzer mit einem Tiny House

Der Österreicher Mario Wurmitzer las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Das Tiny House ist abgebrannt“. Der Ich-Erzähler nimmt einen ungewöhnlichen Job an: Er zieht in ein Tiny House in einer Musterhaussiedlung ein und lässt sich dabei filmen. Die Firma will potenziellen Kunden zeigen, wie es sich in einem Miniaturhaus lebt. Die Kameras ignoriert der Protagonist, der an einem Buch über Rainald Goetz schreibt. (Goetz sorgte 1983 beim Bachmannpreis in Klagenfurt für Aufsehen, weil er sich während der Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt und das Blut auf seinen Text tropfen ließ, Anm.) Eines Tages brennt es in der Musterhaussiedlung durch Brandstiftung, auch das Tiny House brennt ab.

Jury angetan vom Tiny House

Die Jury zeigte sich nach der inhaltlichen Schwere der vorangegangenen Diskussion bemüht, sich auf Thema und Tonalität des Textes einzulassen. Maria Delius sagte, die Diskussion nach der Lesung von Breyger habe noch etwas nachgehallt, es sei nicht einfach gewesen, danach zu lesen. „Was für mich den Text interessant und stark macht ist, dass er eine Erzählhaltung mit ironischer Haltung verbindet, eine witzige Kapitalismuskritik.“ Das Ich sei nur noch ein Profitcenter seiner selbst.

Insa Wilke fand den Text „sehr lustig und unterhaltsam und doch gleichzeitig kritisch“, schlussendlich sei aber auch der Text ein Tiny House „und damit auch begrenzt“. In dieselbe Kerbe schlug auch Sanyal: „Dieser Text geht bis zum Gartenzaun und nicht darüber hinaus. Ausbrechen ist in dem Text nicht angelegt.“ Kastberger freute sich über den „wunderbar leichten, aber trotzdem sehr klugen Text“, der zeigte, dass vielleicht auch der Ich-Erzähler als Autor „nur ein Produkt der Verhältnisse ist“ – mehr dazu in Jurydiskussion Mario Wurmitzer, A.

Laura Leupi Lesung
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Laura Leupi

Laura Leupi über sexuelle Gewalt

Laura Leupi aus der Schweiz liest auf Einladung von Thomas Strässle den Text „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Anhand der Buchstaben des Alphabets wird sexuelle Gewalt in Schlagworten thematisiert. Eine Ich-erzählende Person wird in ihrer Wohnung vergewaltigt. Der Text beschäftigt sich mit den Empfindungen, dem Trauma, dem Danach und damit, wie Gesellschaft, Polizei, Gerichte und Politik mit dem Thema und Medien mit der Sprache umgehen. Ob man Frau sein muss, um vergewaltigt zu werden, dass die meisten sexuellen Übergriffe in Gefängnissen und den eigenen vier Wänden geschehen.

Anerkennung für Leupis Text

Brigitte Schwens-Harrant machte den Anfang: „Danke für die beeindruckende Lesung. Nicht nur die Sprache ist noch deutlicher geworden, sondern der Text wendet sich an das Publikum und spricht direkt an." Vom Formalen her habe sie beeindruckt, es sei ein Versuch, Spuren zu hinterlassen, es gehe um ein Verbrechen, das als solches aber nicht anerkannt werde. Es fange mit einem starken Bild an, dem Raum, der schimmelt. Im Lauf des Textes wächst der Schimmel in den Flur, „ganze starke Bilder am Anfang.“ Faszinierend sei das Alphabet als Grundgerüst, ein Geländer. „Ich habe es gelesen, als Versuch, etwas zu ordnen, was nicht zu ordnen ist.“ Mit den Texten dazwischen komme man mehr zum Privaten bis ins Kinderzimmer.

Insa Wilke fügte hinzu, der Text arbeite mit einer Liste. Literarisch interessant sei, dass die Liste Gewalt ausübe, wie auch das Alphabet und die Grammatik, andererseits sei sie auch befreiend. Mithu Sanyal: „Ich mochte den Text sehr und finde ihn sehr mutig.“ Es ziehe ihr alles zusammen, wenn sie höre „ich bin vergewaltigt worden“. Sie habe ihn gelesen und gedacht, der Text könne zu keinem Ende kommen. Doch er mache eine neue Dimension des Traumas auf. Klaus Kastberger bedankte sich für den Auftritt, es sei ein Theaterstück, eine Inszenierung. Philipp Tingler sagte, der Text leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. Er verwende Begriffe, die das Kollektiv über das Individuum stellen, das sei keine Haltung für Literatur – mehr dazu in Jurydiskussion Laura Leupi, CH.

Deniz Utlu Lesung
ORF/Johannes Puch
Deniz Utlu

Deniz Utlu über Familie und Sprachlosigkeit

Am längsten musste der deutsche Autor Deniz Utlu auf seine Lesung warten, er beschließt den dritten und letzten Lesetag. Er liest auf Einladung von Thomas Strässle den Text „Damit du sprichst“. Der Ich-Erzähler ist ein Teenager mit Eltern türkischer Herkunft. Der Vater hat einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen, die Mutter entwickelt ein System, mit dem sie ihn verstehen kann. Sie übernimmt, angewidert von der schlechten Pflege, selbst die Betreuung des kranken Ehemanns. Zuerst bei täglichen Besuchen in der Klinik, dann zuhause. Der Sohn ist mehr an sich selbst interessiert, an Musik, schreibt Gedichte, hat eine Freundin. Für die Nöte der Mutter hat er kein Verständnis, versteht auch nicht, was sie sich auflädt. Es kommt immer wieder zum Streit, doch die Mutter steht immer zu ihrem Sohn, wie sie zu ihrem Mann steht.

Jury geteilter Meinung

Insa Wilke sagte, der Text behandle die Sprachlosigkeit auf der Ebene der Figuren und der Geschichte. Er erzählt von Konflikten aber auch Liebe und Verbündet sein. Mara Delius sagte, der Text schreibe in Großbuchstaben das Wort SPRACHE. Verwunderlich sei deshalb, dass der Erzähler auf derselben Tonalität bleibe. Alles bleibe auf derselben Sprachregisterebene, anderes habe sie gelungen gefunden. Mithu Sanyal meinte, sie sei super begeistert von dem Text und erstaunt über die vorherigen Wortmeldungen.

Mara Delius meinte, dass über dem Text in Großbuchstaben das Wort SPRACHE, SPRACHE, SPRACHE stehen würde. „Umso verwunderlicher ist es, dass der Ich-Erzähler immer auf demselben sprachlichen Level, auf derselben Tonalität des leisen Nirvana-Hörers bleibt.“ Mithu Sanyal hingegen zeigte sich „überrascht“ sei von den ersten Wortmeldungen, denn sie sei „vollkommen beeindruckt von diesem Text“. Besonders „toll“ finde sie die Gleichzeitigkeit aller Figuren.

Klaus Kastberger sagte, „es tut mir leid, ich kann aus meiner Haut nicht raus, ich lese nach wie vor Thomas Bernhard lieber als solche konventionell erzählten Texte. Was Thomas Strässle grandios und toll findet, das trifft nicht meinen Geschmack. Auch das Ende finde ich sehr aufgesetzt. Ich habe weder die Geduld den langen Text zu lesen noch die Geduld den langen Faden nachzuvollziehen. Mir ist es zu konventionell, ich bin nicht der richtige Leser dafür.“ Philipp Tingler stimmte ihm zu – mehr dazu in Jurydiskussion Deniz Utlu, D.

Publikumsvoting am Nachmittag

Um 15.00 Uhr startet das BKS-Publikumsvoting, das bis 20.00 Uhr freigeschaltet ist. Die Siegerin/der Sieger mit den meisten Stimmen ist BKS-Publikumssieger und bekommt obendrein das von Klagenfurt gesponserte Stadtschreiberstipendium. Das Voting wird hier ab 15.00 Uhr abrufbar sein Sponsoren und Preisvergabe.

Zuschauer im ORF Park
ORF/Johannes Puch
Zuhören, plaudern, Kaffee trinken im ORF-Park

Der erste Tag über Mütter und Gewalt

Mit vier sehr unterschiedlichen Texten wartete das Wettlesen um den Bachmann-Preis am Freitag auf: Während Sophie Klieeisen die Jury in der Frage spaltete, ob ihr Text zur deutsch-deutschen Geschichte reportagenhafte Züge aufweist, rüttelte Martin Piekar mit einem „sehr körperlichen“ Text über eine Mutter-Sohn-Beziehung im Kontext einer Fluchtgeschichte auf.

Der zweite Tag zusammengefasst

Auf fast einhelliges Lob stießen Jacinta Nandi und Anna Felnhofer mit Texten über das Thema Gewalt – mehr dazu in Weitere Favoriten am zweiten Tag.