Laura Leupi Lesung
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Jurydiskussion Laura Leupi, CH

Laura Leupi liest auf Einladung von Thomas Strässle den Text „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Die Jury diskutierte positiv, jedoch mehr über die Form als den Inhalt.

Anhand der Buchstaben des Alphabets wird sexuelle Gewalt in Schlagworten thematisiert. Eine Ich-erzählende Person wird vergewaltigt, in der eigenen Wohnung. Der Text beschäftigt sich mit den Empfindungen, dem Trauma, dem Danach und damit, wie Gesellschaft, Polizei, Gerichte und Politik mit dem Thema und Medien mit der Sprache umgehen. Ob man Frau sein muss, um vergewaltigt zu werden, dass die meisten sexuellen Übergriffe in Gefängnissen und den eigenen vier Wänden geschehen.

Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Brigitte Schwens-Harrant eröffnete die Diskussion mit einem Lob für den Vortrag der Autorin: „Sie haben sichtbar gemacht, dass es ein Text ist, der sich einem Publikum zuwendet." Es habe sie beeindruckt, dass der Text seine Spuren hinterlasse. Es fange mit einem starken Bild an: Mit dem Raum, der zum Schimmeln neige und wie der Schimmel sich ausbreite. Was am meisten auffalle, sei, dass das Alphabet als ein Art Grundgerüst für den Text integriert worden sei. "Ich habe es auch als ein Geländer gesehen. Als einen Versuch, etwas zu ordnen. An dem man sich entlang hanteln kann“, so Schwens-Harrant.

Insa Wilke: „Text richtet sich ans Publikum“

Insa Wilke sagte, es würden sich beim Literaturpreis immer wieder interessante Verbindungen zwischen den Texten ergeben. Dieser Text arbeite damit, „dass sich das Publikum mit dem Text in Verhältnis setzt.“ Der Text vertrete „sehr viel deutlicher“ ein politisches und ein literarisches Anliegen. Die alphabetische Liste übe Gewalt aus – „wie die Grammatik übrigens auch“ – andererseits sei die Liste etwas „Befreiendes, weil sie eine gewisse Anarchie bietet, weil Dinge da draufstehen, die vielleicht nicht zusammengehören und auf einem einen Zusammenhang ergeben.“

Juryvorsitzende Insa Wilke
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Insa Wilke

Mithu Sanyal fand, dass dieser Text „total mutig“ sei. Hier werde etwas ausgesprochen: ,Ich bin vergewaltigt worden.‘ „Das zieht mich zusammen, wenn ich das höre“, sagte Sanyal. Das Alphabet zeige uns „alle falschen Worte. Bei allen Worten denke mir immer nur: Bitte schreib dieses Wort nicht auf. Aber in der Akkumulation der Worte entwickelt es erst seine Kraft.“ Dabei habe sie erst gedacht: Bitte kein Alphabet. Doch dann habe sie daran Gefallen gefunden.

Thomas Strässle hob einen Satz aus dem Text hervor: „Das Wort Missbrauch setzt einen Gebrauch voraus.“ Dazu Thomas Strässle: „Es steht der Literatur nicht an, ab und zu intelligente Gedanken zu formulieren.“ Es werde in dem Text mit allen Kunstmitteln der Rhetorik „im besten Sinne“ gearbeitet.

Mara Delius: „Starke Bilder“

Mara Delius ging auf die Bildebene ein. Es gebe sehr starke Bilder. Die Unheimlichkeit trete aus den Bildern heraus, was etwa in dem Satz „Das Bett lacht höhnisch“ zum Ausdruck komme. Delius: „Es sind sehr starke Bilder und das hat mich aus meiner Anfangsskepsis herausgebracht.“

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Klaus Kastberger wollte sich „herzlich für den Auftritt bedanken“. Es habe sich tatsächlich „um einen Auftritt, um ein Theaterstück gehandelt, um einen Text, der inszeniert ist.“ Es habe ihm gezeigt, dass Texte in der Betrachtung nicht nur für sich selbst gesehen werden sollten. Kastberger: „Es hat uns gezeigt, dass die Texte durch den Rahmen belebt werden.“ Durch die Performance sei die Kohärenz des Textes ab der ersten Minute klargeworden. Durch klare Gestiken habe sich Laura Leupi auf die Situation bezogen. Die Frage, ob der Schreibende es selbst erlebt habe, sei dabei unerheblich. Laura Leupi als Lesende habe es personifiziert. Er habe die Offenheit als „total gelungen“ gefunden. Es sei ein großer Kontrast zwischen dem „stillen Lesen“ und der persönlichen Performance hier klargeworden. „Das ist ein ganz großer Moment gewesen.“

Brigitte Schwens Harrant und Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Philipp Tingler: „Kein mutiger Text“

Philipp Tingler zeigte jedoch eine ganz andere Sicht auf den Text: „Ich habe erst gedacht, er ist großartig, aber ich finde den Text weder emanzipatorisch noch mutig. „Der Text betreibt genau das, was er kritisiert. Nämlich die Fetischierung von Begriffen. Der Text leidet an einem Moralisierungs-Überschuss. Er ist vollkommen geschlossen und er benutzt Sprache tendenziell totalitär“, fand Tingler. Ein typisches Kennzeichen für totalitären Sprachgebrauch sei die unfreiwillige Ironie. Es finde keine kritische Auseinandersetzung mit Begriffen statt, die identitätspolitisch extrem stark aufgeladen seien. Tingler: „Je länger desto mehr bin ich alarmiert.“

„Problem mit Männerbildern“

Insa Wilke konterte auf Tingler: „Ich finde es ja schon einmal schön, wenn man es schafft, auf paradoxe Weise Totalitarismus und Ironie zusammenzubringen." In dem Text werde einen Schritt weiter gedacht und sehr viel umfassender gedacht. Es gehe das grundlegende System des Patriarchats. „Es betrifft alle“, so Wilke. Es gehe nicht um einzelne Gruppen, es gehe auch darum, dass es zu wenig Männerhäuser gebe und ein Problem mit Männlichkeitsbildern gebe. „Wenn man Kritik üben will, wenn man Systemveränderung haben will, dann muss man sie umfassend denken, das widerspricht absolut dem, was Tingler gesagt hat.“ Applaus im Publikum.

„Es ist mir klar, dass es nicht populär ist, aber jemand muss es sagen“, verteidigte sich Tingler. „Es geht hier darum, dass wir diskutieren“, führte er später noch an.
Es entwickelte sich eine intensive Debatte zwischen Thomas Strässle und Philipp Tingler über Identitätspolitik. "Das Wesen von Identitätspolitik – links wie rechts – lässt sich immer darauf reduzieren, dass ein Kollektiv, eine Kategorie über das Indiviuum gestellt wird und es macht mich wahnsinnig, denn es ist antiaufklärerisch und antiemanzipatorisch. Und wenn es nicht bald realisiert wird, bewegen wir uns in eine unmögliche Richtung.

Das Schlusswort hat Insa Wilke: „Ich glaube, was mich so aufbringt, ist, dass auch die Literaturkritik patricharchal geprägt ist. Es ist schwer, hier eine Durchlässigkeit zu schaffen. Kategorien wie Körper, Empathie und Ethik sind schon lange ausgeschlossen im Feuilleton – mehr als in der Wissenschaft, muss man sagen."