Yevgeniy Breyger
ORF/Johannes Puch
ORF/Johannes Puch

TEXT Yevgeniy Breyger, UKR/D

Yevgeniy Breyger liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Die Lust auf Zeit“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf. Der Download und die Nutzung der Texte darf lediglich zu Privatzwecken erfolgen.

Apropos Gesicht. Seltsam, wie die Merkmale, Züge, an Bedeutung verlieren, obwohl sich erlebte Zeit in sie eingeschrieben hat. Erlebt, im Sinne einer aktiven Handlung wie „Ich habe es mir hart erlebt“, nicht im Sinne von „angeeignet“. Die Falte zwischen der linken und der rechten Stirnpartie als Symbol des Nachdenkens, abwechselnd Quäntchen Qual oder mein kleines Glück. Sie sieht blass aus, beinahe flach, ausradiert vom weißen Licht, das der Spiegel zurückwirft, förmlich in die Augen schießt. Auch diese Falte habe ich mir erlebt und ich weiß noch, wie ich sie zum ersten Mal bemerkt habe, zuerst mit den Fingern tastend, beim Verwischen von Nachtschweiß, Panikschweiß nach dem morgendlichen Anruf meiner Mutter. Was sie tun solle, mein Vater sei gefallen, liege auf dem Boden und könne sich nicht rühren, hätte sie mir sagen wollen, hätte ich den Anruf nicht verpasst. Und dann der eigentliche Anruf, einige Stunden später, er habe einen Schlaganfall erlitten – erlitten! –, liege auf der Intensivstation, sie habe nicht gewusst, was tun und er habe ihr stundenlang verboten, den Krankenwagen zu rufen und so weiter. Aber was tun? Da. Hier also zum ersten Mal die Falte ertasten. Was für ein dunkler Moment, denke ich später im Zug auf dem Weg ins Krankenhaus, was für eine Dunkelheit, die aufzieht. Und mir fällt ein, dass ich doch eigentlich einer dieser Menschen bin, der Glück hat. Pure Reinheit, pures Glück, das sich auf meine Umwelt auszustrecken vermag.

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