Der nächste Livestream am Freitag, dem 30. Juni beginnt um 10.00 Uhr.
Bei strahlendem Sonnenschein startete der erste Lesetag mit höchst unterschiedlichen Texten und Jury-Stimmungen. Dominierend war am Vormittag die Frage der Trennung zwischen Werk und Autor sowie die Definition von Konventionalität. Der Nachmittag brachte einhelliges Jury-Lob für Valeria Gordeev.
Jayrome C. Robinet las als erster Autor 2023 auf Einladung von Mithu Sanyal den Romanauszug „Sonne in Scherben“. Eine Familiengeschichte – die Mutter ist Französin, der Vater Sizilianer, weiters die Ich-Erzählerin und der kleine Bruder, der zusammen mit dem Vater bei einem Autounfall stirbt. Der Vater ist der Held der Erzählerin, der Handwerker, der alles kann und „La vie en rose“ mitsingt. Die Erzählerin wird erwachsen und weiß, dass sie ein Mann ist, ein Transmann, ein deutscher Mann. Er verliebt sich in die Frau, die Saunaaufgüsse macht, Angele, und beide beschließen, ein Kind zu bekommen.

Schmunzeln beim Publikum
Der Autor, der 2019 mit seinen Memoiren „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ Aufsehen erregte, sorgte mit seinem von der heuer neu dazugestoßenen Jurorin Mithu Sanyal eingeladenen Text für erste heiße Jury-Diskussionen über die Frage der Trennung zwischen Text und Autor, zumal sowohl der Ich-Erzähler als auch der Autor trans sind. Im Stehen und oft auswendig vorgetragene Sätze wie „Ich habe einen Vagina mit Variationshintergrund“ sorgten im Publikum im Saal wie im Garten für Schmunzeln und am Ende für lang anhaltenden Applaus. Tränen gab es hingegen bei Jurorin Sanyal, die während des Vortrags noch stärker ergriffen war als beim Lesen, er sei ihr „direkt unter die Haut“ gegangen.
Mara Delius sagte: „Für mich hat der Text immens durch die Performance gewonnen. Anrührend, aber überraschend konventionell, wenn man sich das Thema anschaut.“ „Dankbar war ich für die Performance“. Thomas Strässle meinte, er sei „begeistert von der Lesung.“ Bei der Lektüre sei er schon angetan gewesen, vor allem vom Anfang, da sei er „begeistert“ gewesen von den szenischen Miniaturen, mit denen eine Kindheit geschildert werde. Der Text habe wahnsinniges erzählerisches Potenzial. Insa Wilke sagte, sie habe beim Text mehrmals gelacht.
Philipp Tingler meinte: „Ich warte schon lange darauf, für den Vortrag zu gratulieren. Ich finde den Text dort sehr gut, wo er Distanz entwickelt.“ Klaus Kastberger sagte: „Ich verrate ihnen ein Geheimnis, wir haben es nicht mit einem Text zu tun sondern mit einem Package, das fange beim Autorenportrait an und reiche bis zur Lesung. Das Package war perfekt.“ Das letzte Wort hatte der Autor: „Danke“ – mehr dazu in Jurydiskussion Jayrome C. Robinet.

Andreas Stichmann mit „Verwechslungen“
Der deutsche Autor Andreas Stichman las als nächstes auf Einladung von Mara Delius den Text „Verwechslungen“, wieder ein Ich-Erzähler. Er befindet sich wegen Nesselsucht stationär in einer Allergieklinik. Er verwechselt einen Pfleger mit einem alten Bekannten, und verwechselt ihn noch einmal mit einem anderen Patienten. Der Pfleger Pepe Schwertens nennt es „Gefühlsdisko“.
Er brachte die Jury zu einer intensiven Diskussion über die Definition von Konventionalität, die keine Einigung brachte.
„Schöne Kleinigkeiten“ und „pseudopsychologische Phrasen“
Juryvorsitzende Insa Wilke eröffnete die Diskussion. Sie sagte, der Erzähler hätte die Gefühlslagen sehr exzessiv vortragen können. Man habe es hier mit einem Ich-Erzähler zu tun, der versuche, sich mitzuteilen. Der unter Druck sei, der aber auch Sehnsucht nach Nähe habe. Es gebe im Text „ganz schöne Kleinigkeiten“, die „etwas anderes aufmachen“ würden. Mara Delius, die den Autor eingeladen hatte, sagte, für sie sei der Text „sehr unkonventionell“, auf eine „sehr subtile Art und Weise unkonventionell“. Der Text heiße zwar „Verwechslungen“, handle aber vielmehr von Fallen der Identität.
Philipp Tingler sprach in seiner Analyse von „pseudopsychologischen Phrasen“. Der Klinik-Kontext sei ein klassisch-literarischer Topos. Die Verwechslung in dem Text sei nicht buchstäblich zu verstehen, sondern auch eine Verwechselung der Zeit. Es handle sich um einen andauernden Versuch des Erzählers, zu rekonstruieren, was tatsächlich passiert sei. „Das ist schon sehr gut gemacht" – mehr dazu in Jurydiskussion Andreas Stichmann.
Valeria Gordeev liest „Er putzt“
Die deutsche Autorin Valeria Gordeev wurde von Insa Wilke nach Klagenfurt eingeladen mit ihrem Text „Er putzt“. Beschrieben wird ein junger Mann, der gerne putzt. An Stellen putzt, die kaum jemand bemerkt und selbst Reinigungsmittel herstellt. Mit seiner Mutter führt das oft zum Streit, weil sie im Gegensatz zu ihm nachlässig und schlampig ist. So putzt er hinter ihr her, mit einer seltsamen Befriedigung, dass alles so schmutzig ist.

Thomas Strässle sagte, man müsse das schon beschreiben können, wie man den Abfluss einer Spüle genau putze. „Nachdem ich das gelesen habe, hab ich mich in meiner Wohnung nicht mehr wohl gefühlt“. Philipp Tingler sagte, er finde den Text sehr gelungen. Irritierend habe er die eine Stelle gefunden, wo der Protagonist etwas in die Tiefkühltruhe lege, um es keimfrei zu machen. Das stimme einfach nicht, das wisse jeder. Mithu Sanyal meinte, der junge Mann im Text sei sehr empathisch. „Ich war immer versucht, den Text zu datieren, wann er spiele. Ich vermute, in den 80er oder 90er Jahren, er hätte das gerne gewusst“ – mehr dazu in Jurydiskussion Valeria Gordeev.

Anna Gien mit „Eve Sommer“
Als letzte Autorin des ersten Lesetages ist noch Anna Gien an der Reihe, sie wurde von Mara Delius eingeladen und liest den Text „Eve Sommer“. Es sind Tagebucheintragungen von Eve in unregelmäßigen Abständen. Die Ich-Erzählerin schildert Träume wie über eine Begegnung mit Thomas Bernhard oder Besuche bei ihrer Großmutter im Pflegeheim. Sie hat eine Beziehung mit jemandem, der nicht näher beschrieben wird und als „Du“ angesprochen wird.
Jury nicht so sehr angetan
Delius eröffnete die Jurydiskussion zu ihrer Autorin. Sie sagte, dass Anna Gien die „etwas herausfordernde Situation“ gehabt habe, dass sie als Letzte an diesem Tag ihre Geschichte vorgetragen habe. „Ich finde, Sie haben sehr, sehr klar und ruhig – und mit einer gewissen Härte gelesen, was mir sehr gut gefallen hat. Es handelt sich um Notizen einer Frau, die gewissermaßen außer sich ist. Der Text erschaffe „eine reine Form von Empfindungswelt", so Delius. „Ich habe so geflucht beim Lesen“, sagte hingegen Juryvorsitzende Insa Wilke. „Weil ich mir einen abgebrochen habe, das alles zu interpretieren“. Sie sei schon am Anfang verwirrt gewesen, sagte Wilke.
Thomas Strässle erklärte eingangs, er habe „nicht geflucht“, aber er habe sich auch sehr konzentrieren müssen. Philipp Tingler begann sein Statement damit, dass er es langweilig finde, „wenn Leute mir ihre Träume erzähle“. Aber diese Geschichte werfe die Frage auf, wen das interessiere. Und das meine er ganz ernsthaft. Für ihn gebe es vereinzelte gelungene Stellen, doch das sei ihm beim Lesen etwas passiert, der Text sei ihm auf den Boden gefallen – mehr dazu in Jurydiskussion Anna Gien.
Veränderte Preisermittlung
Die Ermittlung der Preisträger erfolgt am Sonntag nach einem neuen Modus: Zu Beginn der Preisvergabe am Sonntag werden die Jurymitglieder live ihre Wertungspunkte abgeben. Der Justiziar übernimmt die Aufgabe, diese Abstimmungsergebnisse zu addieren und erstellt daraus die Preisträgerliste des Bewerbes, die sukzessive beginnend mit dem 3sat-Preis bekannt gegeben wird.
Neben dem Bachmann-Preis (25.000 Euro) ist dies der Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro), der Kelag-Preis (10.000 Euro), der 3sat-Preis (7.500 Euro) sowie der BKS Bank-Publikumspreis (7.000 Euro plus Stadtschreiberstipendium) – mehr dazu in Preise und Preisstifter 2023.