Jurydiskussion
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Erste Favoriten am ersten Tag

Am ersten Lesetag trugen Jayrome C. Robinet, Andreas Stichmann, Valeria Gordeev und Anna Gien ihre Texte vor. Positiv wurde der Text von Gordeev über einen neurotischen, putzbesessenen Mann bewertet. Der Vortrag von Robinet kam gut an und brachte eine Jurorin sogar zum Weinen. Stichmanns Text über einen Klinikalltag bekam freundliche Kritik. Bei Anna Giens Text zeigte sich die Jury gespalten.

Der nächste Livestream am Freitag, dem 30. Juni beginnt um 10.00 Uhr.

Bei strahlendem Sonnenschein startete der erste Lesetag mit höchst unterschiedlichen Texten und Jury-Stimmungen. Dominierend war am Vormittag die Frage der Trennung zwischen Werk und Autor sowie die Definition von Konventionalität. Der Nachmittag brachte einhelliges Jury-Lob für Valeria Gordeev.

Jayrome C. Robinet las als erster Autor 2023 auf Einladung von Mithu Sanyal den Romanauszug „Sonne in Scherben“. Eine Familiengeschichte – die Mutter ist Französin, der Vater Sizilianer, weiters die Ich-Erzählerin und der kleine Bruder, der zusammen mit dem Vater bei einem Autounfall stirbt. Der Vater ist der Held der Erzählerin, der Handwerker, der alles kann und „La vie en rose“ mitsingt. Die Erzählerin wird erwachsen und weiß, dass sie ein Mann ist, ein Transmann, ein deutscher Mann. Er verliebt sich in die Frau, die Saunaaufgüsse macht, Angele, und beide beschließen, ein Kind zu bekommen.

Jayrome C Robinet
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Jayrome C. Robinet

Schmunzeln beim Publikum

Der Autor, der 2019 mit seinen Memoiren „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ Aufsehen erregte, sorgte mit seinem von der heuer neu dazugestoßenen Jurorin Mithu Sanyal eingeladenen Text für erste heiße Jury-Diskussionen über die Frage der Trennung zwischen Text und Autor, zumal sowohl der Ich-Erzähler als auch der Autor trans sind. Im Stehen und oft auswendig vorgetragene Sätze wie „Ich habe einen Vagina mit Variationshintergrund“ sorgten im Publikum im Saal wie im Garten für Schmunzeln und am Ende für lang anhaltenden Applaus. Tränen gab es hingegen bei Jurorin Sanyal, die während des Vortrags noch stärker ergriffen war als beim Lesen, er sei ihr „direkt unter die Haut“ gegangen.

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Publikum
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Publikum Tddl 2023 Erster Lesetag
Zuhörerin mit Kron
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Zuhörerin mit Krone
Mithu Sanyal und Insa Wilke
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Jurorinnen Mithu Sanyal und Insa Wilke
Jayrome C. Robinet, F/D
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Jayrome C. Robinet, F/D
Publikum TddL Tag 1
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Publikum TddL Tag 1
Peter Fässlacher und Kamerafrau
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Peter Fässlacher und Kamerafrau während Lesung
Insa Wilke Thomas Strässle
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Die Juroren Insa Wilke Thomas Strässle
Lektüre auf Papier und Handy-Display
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Lektüre auf Papier und Handy-Display
Klaus Kastberger, Mara Delius
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Klaus Kastberger, Mara Delius
Die Jury TddL 2023 erster Lesetag
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Die Jury TddL 2023 erster Lesetag
Andreas Stichmann
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Andreas Stichmann

Mara Delius sagte: „Für mich hat der Text immens durch die Performance gewonnen. Anrührend, aber überraschend konventionell, wenn man sich das Thema anschaut.“ „Dankbar war ich für die Performance“. Thomas Strässle meinte, er sei „begeistert von der Lesung.“ Bei der Lektüre sei er schon angetan gewesen, vor allem vom Anfang, da sei er „begeistert“ gewesen von den szenischen Miniaturen, mit denen eine Kindheit geschildert werde. Der Text habe wahnsinniges erzählerisches Potenzial. Insa Wilke sagte, sie habe beim Text mehrmals gelacht.

Philipp Tingler meinte: „Ich warte schon lange darauf, für den Vortrag zu gratulieren. Ich finde den Text dort sehr gut, wo er Distanz entwickelt.“ Klaus Kastberger sagte: „Ich verrate ihnen ein Geheimnis, wir haben es nicht mit einem Text zu tun sondern mit einem Package, das fange beim Autorenportrait an und reiche bis zur Lesung. Das Package war perfekt.“ Das letzte Wort hatte der Autor: „Danke“ – mehr dazu in Jurydiskussion Jayrome C. Robinet.

Andreas Stichmann Lesung
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Andreas Stichmann

Andreas Stichmann mit „Verwechslungen“

Der deutsche Autor Andreas Stichman las als nächstes auf Einladung von Mara Delius den Text „Verwechslungen“, wieder ein Ich-Erzähler. Er befindet sich wegen Nesselsucht stationär in einer Allergieklinik. Er verwechselt einen Pfleger mit einem alten Bekannten, und verwechselt ihn noch einmal mit einem anderen Patienten. Der Pfleger Pepe Schwertens nennt es „Gefühlsdisko“.

Er brachte die Jury zu einer intensiven Diskussion über die Definition von Konventionalität, die keine Einigung brachte.

„Schöne Kleinigkeiten“ und „pseudopsychologische Phrasen“

Juryvorsitzende Insa Wilke eröffnete die Diskussion. Sie sagte, der Erzähler hätte die Gefühlslagen sehr exzessiv vortragen können. Man habe es hier mit einem Ich-Erzähler zu tun, der versuche, sich mitzuteilen. Der unter Druck sei, der aber auch Sehnsucht nach Nähe habe. Es gebe im Text „ganz schöne Kleinigkeiten“, die „etwas anderes aufmachen“ würden. Mara Delius, die den Autor eingeladen hatte, sagte, für sie sei der Text „sehr unkonventionell“, auf eine „sehr subtile Art und Weise unkonventionell“. Der Text heiße zwar „Verwechslungen“, handle aber vielmehr von Fallen der Identität.

Philipp Tingler sprach in seiner Analyse von „pseudopsychologischen Phrasen“. Der Klinik-Kontext sei ein klassisch-literarischer Topos. Die Verwechslung in dem Text sei nicht buchstäblich zu verstehen, sondern auch eine Verwechselung der Zeit. Es handle sich um einen andauernden Versuch des Erzählers, zu rekonstruieren, was tatsächlich passiert sei. „Das ist schon sehr gut gemacht" – mehr dazu in Jurydiskussion Andreas Stichmann.

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Lesung Anna Gien im Garten
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Lesung Anna Gien im ORF Garten
Lesende in Bachmannpreis Liegestuhl
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Lesende in Bachmannpreis Liegestuhl
Lesender und Zuhörender
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Lesender und Zuhörender
Mikrofone und Kaffeetassen
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Mikrofone und Kaffeetassen
Jurydiskussion
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Jurydiskussion
Klaus Kastberger und Mara Delius
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Klaus Kastberger und Mara Delius
Mithu Sanyal und Insa Wilke
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Mithu Sanyal und Insa Wilke
Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler
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Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler
Publikum
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Publikum
Kameramann und Juroren
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Kameramann Benito Oliva und Juroren
Büchertisch
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Büchertisch
Cvetka Lipus, Ales Steger, Cecile Schortmann
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Cvetka Lipus, Ales Steger, Cecile Schortmann
 Jayrome C. Robinet im Gespräch mit zwei Frauen
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Jayrome C. Robinet im Gespräch mit zwei Frauen
Zuhörer im Garten
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Zuhörer im Garten
Valeria Gordeev
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Valeria Gordeev

Valeria Gordeev liest „Er putzt“

Die deutsche Autorin Valeria Gordeev wurde von Insa Wilke nach Klagenfurt eingeladen mit ihrem Text „Er putzt“. Beschrieben wird ein junger Mann, der gerne putzt. An Stellen putzt, die kaum jemand bemerkt und selbst Reinigungsmittel herstellt. Mit seiner Mutter führt das oft zum Streit, weil sie im Gegensatz zu ihm nachlässig und schlampig ist. So putzt er hinter ihr her, mit einer seltsamen Befriedigung, dass alles so schmutzig ist.

Lesung Valeria Gordeev
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Valeria Gordeev

Thomas Strässle sagte, man müsse das schon beschreiben können, wie man den Abfluss einer Spüle genau putze. „Nachdem ich das gelesen habe, hab ich mich in meiner Wohnung nicht mehr wohl gefühlt“. Philipp Tingler sagte, er finde den Text sehr gelungen. Irritierend habe er die eine Stelle gefunden, wo der Protagonist etwas in die Tiefkühltruhe lege, um es keimfrei zu machen. Das stimme einfach nicht, das wisse jeder. Mithu Sanyal meinte, der junge Mann im Text sei sehr empathisch. „Ich war immer versucht, den Text zu datieren, wann er spiele. Ich vermute, in den 80er oder 90er Jahren, er hätte das gerne gewusst“ – mehr dazu in Jurydiskussion Valeria Gordeev.

Lesung Anna Gien
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Anna Gien

Anna Gien mit „Eve Sommer“

Als letzte Autorin des ersten Lesetages ist noch Anna Gien an der Reihe, sie wurde von Mara Delius eingeladen und liest den Text „Eve Sommer“. Es sind Tagebucheintragungen von Eve in unregelmäßigen Abständen. Die Ich-Erzählerin schildert Träume wie über eine Begegnung mit Thomas Bernhard oder Besuche bei ihrer Großmutter im Pflegeheim. Sie hat eine Beziehung mit jemandem, der nicht näher beschrieben wird und als „Du“ angesprochen wird.

Jury nicht so sehr angetan

Delius eröffnete die Jurydiskussion zu ihrer Autorin. Sie sagte, dass Anna Gien die „etwas herausfordernde Situation“ gehabt habe, dass sie als Letzte an diesem Tag ihre Geschichte vorgetragen habe. „Ich finde, Sie haben sehr, sehr klar und ruhig – und mit einer gewissen Härte gelesen, was mir sehr gut gefallen hat. Es handelt sich um Notizen einer Frau, die gewissermaßen außer sich ist. Der Text erschaffe „eine reine Form von Empfindungswelt", so Delius. „Ich habe so geflucht beim Lesen“, sagte hingegen Juryvorsitzende Insa Wilke. „Weil ich mir einen abgebrochen habe, das alles zu interpretieren“. Sie sei schon am Anfang verwirrt gewesen, sagte Wilke.

Thomas Strässle erklärte eingangs, er habe „nicht geflucht“, aber er habe sich auch sehr konzentrieren müssen. Philipp Tingler begann sein Statement damit, dass er es langweilig finde, „wenn Leute mir ihre Träume erzähle“. Aber diese Geschichte werfe die Frage auf, wen das interessiere. Und das meine er ganz ernsthaft. Für ihn gebe es vereinzelte gelungene Stellen, doch das sei ihm beim Lesen etwas passiert, der Text sei ihm auf den Boden gefallen – mehr dazu in Jurydiskussion Anna Gien.

Veränderte Preisermittlung

Die Ermittlung der Preisträger erfolgt am Sonntag nach einem neuen Modus: Zu Beginn der Preisvergabe am Sonntag werden die Jurymitglieder live ihre Wertungspunkte abgeben. Der Justiziar übernimmt die Aufgabe, diese Abstimmungsergebnisse zu addieren und erstellt daraus die Preisträgerliste des Bewerbes, die sukzessive beginnend mit dem 3sat-Preis bekannt gegeben wird.

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Peter Fässlacher und Cécile Schortmann.
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Peter Fässlacher und Cécile Schortmann
Juryvorsitzende Insa Wilke Klaus Kastberger Mara Delius
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Juryvorsitzende Insa Wilke, Klaus Kastberger, Mara Delius
LH Peter Kaiser und Peter Fässlacher
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LH Peter Kaiser und Peter Fässlacher
Landesdirektorin Karin Bernhard
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Landesdirektorin Karin Bernhard
Peter Schöber  3sat
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Peter Schöber
Die Ehrengäste
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Die Ehrengäste
Juryvorsitzende Insa Wilke
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Juryvorsitzende Insa Wilke
Ulrike Fink
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Ulrike Fink
Frau Bach und Söhne
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Frau Bach und Söhne
ORF Barbara Frank
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ORF Barbara Frank
Die Ehrengäste bei der TddL Eröffnung
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Die Ehrengäste bei der TddL Eröffnung
Herta Stockbauer, Werner Pietsch und Cécile Schortmann
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Herta Stockbauer, Werner Pietsch und Cécile Schortmann
Eröffnung
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Die Eröffnung im ORF Theater
Mithu Sanyal Jurorin
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Mithu Sanyal Jurorin
Der ORF Park
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Der ORF Park
Edgar Unterkirchner
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Edgar Unterkirchner
Eröffnung TddL
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Eröffnung TddL

Neben dem Bachmann-Preis (25.000 Euro) ist dies der Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro), der Kelag-Preis (10.000 Euro), der 3sat-Preis (7.500 Euro) sowie der BKS Bank-Publikumspreis (7.000 Euro plus Stadtschreiberstipendium) – mehr dazu in Preise und Preisstifter 2023.