Gott hat dir eine Zunge gegeben, damit du sprichst, sagte Mutter. Wenn sie wütend wurde aufgrund der Sprachlosigkeit zwischen uns, fuhr sie sich mit der Hand in den Mund, fasste mit zwei Fingern nach ihrer Zunge und rief: Das hier, das, das ist zum Sprechen da, das ist es, was den Menschen ausmacht. Sprich, Junge, sprich!
Mein Vater konnte nicht mehr mit der Zunge sprechen. Seine Augen waren seine Zunge geworden. Die Ärzte glaubten meiner Mutter nicht, dass sie Kontakt aufnehmen konnte mit ihm. Sie sagten, er leide am apallischen Syndrom, die Großhirnfunktionen seien ausgefallen, und in der Großhirnrinde sitze das Bewusstsein. Aber Mutter sah die Worte meines Vaters, der die Augen aufriss oder schloss, sie lernte, sein Nein und sein Ja zu lesen.
Als Mutter begriff, dass er bei Bewusstsein war, schrieb sie mit einem dicken schwarzen Filzstift das Alphabet auf ein Stück Pappe, fuhr mit dem Finger über die Buchstabenreihe und hielt an, wenn Vater die Augen schloss. So suchte sich Vater Buchstabe für Buchstabe zusammen und fand zu seinen Worten.
Das Erste, was Vaters Augen sagten, war: Ich dachte, ich bin tot, ich dachte, das hier ist das Jenseits.
Vater sagte: Ich habe Hunger. Vater sagte: Ich friere in den Nächten. Vater sagte: Nehmt den Müll aus meiner linken Hosentasche. Und Mutter entdeckte, dass er sich dort wundgelegen hatte.
Um zu beweisen, dass er bei Bewusstsein war, zeigte Mutter ihm das Bild eines Kükens, und er sagte: Küken. Mutter fragte nach der Farbe des Kükens, Vater sagte: Gelb. Mutter fragte: Wer bin ich? Und: Hast du Kinder? Vater sagte: Du bist Senem, ich habe zwei Kinder. Vaters Augen wurden wütend, er sagte: Ich bin nicht dumm.
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