Zuhörer Lesungen ORF Funkhauspark Klagenfurt
ORF/Johannes Puch
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Weitere Favoriten am zweiten Tag

Sehr unterschiedliche Texte gab es am Freitag, dem zweiten Lesetag, im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur. Gelobt wurden die Texte von Marin Piekar, Jacinta Nandi und vor allem der Österreicherin Anna Felnhofer, die am Nachmittag las.

Während Sophie Klieeisen die Jury in der Frage spaltete, ob ihr Text zur deutsch-deutschen Geschichte reportagenhafte Züge aufweist, rüttelte Martin Piekar mit einem „sehr körperlichen“ Text über eine Mutter-Sohn-Beziehung im Kontext einer Fluchtgeschichte auf. Auf fast einhelliges Lob stieß der Beitrag von Jacinta Nandi über das Thema Gewalt in der Familie. Sehr positiv wurde auch der Text der Österreicherin Anna Felnhofer besprochen, für Philipp Tingler „ein Text von hoher literarischer Qualität“.

Sophie Klieeisen über deutsche Geschichte

Die deutsche Autorin Sophie Klieeisen las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Taube Früchte“. Der Ich-Erzähler ist Journalist und berichtet von der Einweihung des wieder aufgebauten Berliner Schlosses, das den von der DDR gebauten Palast der Republik ersetzt. Darin untergebracht ist das Humboldtforum mit einem Universalmuseum, der Text beleuchtet anhand des Gebäudes die deutsche Geschichte.

Sophie Klieeisen Lesung
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Sophie Klieeisen

Jury debattierte über „Reportage oder nicht“

Den Beginn machte Thomas Strässle: „Was ist das für ein Text?“ Er habe die Züge einer Reportage, es kommen Figuren und ein Gebäude vor, das Humboldtforum. Gut finde er die drei historische Ebenen, die ineinander geblendet werden. Es gebe gute satirische Beobachtungen. Mara Delius meinte, es sei ein literarischer Text, sie sehe keine Reportage. Der Text schaffe es, in erzählerischer Form kurze Bilder einzubauen. Mithu Sanyal schloss sich an, es sei ein erzählerischer Text, der aber keine Geschichte erzähle, sondern mit Statik arbeite. „Literarisch sehr beeindruckend“, fand sie. Aber sie habe keine emotionale Nähe zu diesem Text.

Brigitte Schwens-Harrant meinte, sie wisse nicht, wo die radikale Abgrenzung zur Reportage herkomme. Sie können sehr wohl mit viel erzählerischen Mitteln arbeiten, sonst werden sie nicht gedruckt. Man kenne ja die Eröffnungsfeste aus dem Literaturbetrieb, das habe satirische Züge. Die Gebäudemetapher sei für sie spannend, es sei ein Blick in die Geschichte eines Landes. In den Dialogen sehe sie ein bisschen das Problem, dass sie ins Dozierende gehen, das mache es unlebendig – mehr dazu in Jurydiskussion Sophie Klieeisen, D.

Martin Piekar
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Martin Piekar

Martin Piekar mit einer Mutter-Sohn-Geschichte

Der deutsche Autor Martin Piekar liest auf Einladung von Klaus Kastberger den Text „Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk“. Der Text erzählt aus Sicht eines Teenagers seine Konflikte mit der aus Polen stammenden Mutter, die sich um den kranken Vater kümmern muss, arbeitet und mit dem Ich-bezogenen Sohn ständig Konflikte hat.

„Das ist ein sehr kluger Text“ sagte Insa Wilke. Es sei eine Art Requiem, ein Text, der in einem kleinen Raum, einem Flur, einer kleinen Wohnung, viele Räume öffnet. Er mache Platz für viele Stimmungen, halte ein Plädoyer für Räume in der Kunst, die negative Gefühle enthalten können. Viel Trauer und viel Liebe, so Wilke. Mithu Sanyal dankte für die Einladung des Textes. Es habe viele Texte gegeben, wo es um das Ungesagte gehe, das gehe ihr nahe. Klaus Kastberger sagte, der Text lebe von der Emotion, das merke man am Publikum und auch an der Jury.

Piekar schrieb gute zwei Seiten mit, während die Jury diskutierte. Als Schlusswort dankte er der Jury und meinte, er habe überlegt, ob er den Korken ziehe, aber er lasse ihn stecken. Man könne persönlich in Austausch mit ihm gehen. Es gab starken Applaus im Publikum.

Jacinta Nandi
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Jacinta Nandi über Mütter

Jacinta Nandi liest auf Einladung von Mithu Sanyal den Text „Wenn ich eine Zeitmaschine hätte“. Ein Text über Mutter, sie geht mit ihrem kleinen Sohn spazieren, er spricht pausenlos vom Computerspiel Minecraft. Sie denkt über ihren neuesten Liebhaber nach, der eigentlich keiner ist, weil sie nicht mit ihm geschlafen hat. Er soll reich sein, lässt sich die Wohnung im Lockdown aber vom Jobcenter bezahlen. Sie hat einen Mann, er hat eine Freundin, hin und wieder treffen sie einander. Sie vergleicht sich mit deutschen Müttern, die ihren Kindern auch nie zuhören, deren Kindern es nicht gut gehen soll, die aber wollen, dass die Kinder perfekt werden. Sie lebt in einer Gewaltbeziehung, die sie als solche nicht erkennt, weil sie ihn nicht respektiert.

Die Jury diskutierte darüber, ob es sich um eine Gewaltbeziehung handelt oder nicht. Mithu Sanyla meinte, hier werde auch über Mutterschaft so gesprochen, wie man es nie dürfe. Man dürfe sich aber auch mit Kindern langweilen, auch wenn man sie liebe. Philipp Tingler fand die Szene der koksenden Mütter als die gelungenste. „Ich will die Debatte aber vernünftiger gestalten.“ Insa hätte gemeint, Kritik habe das Kriterium, aus dem Text selbst zu beziehen, „das ist nicht der Fall“. Der Text habe ganz schlechte Passagen, das könne er untermauern.

Anna Felnhofer
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Anna Felnhofer

Lesung Anna Felnhofer

Die Österreicherin Anna Felnhofer las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text „Fische fangen“. Geschildert wird ein 17-Jähriger, der in der Schule verprügelt wird. Der gesichtsblind ist und daher seine Mitschüler genauso wenig erkennt wie seine Peiniger. Jedes Jahr beginnt er eine neue Klasse mit fremden Menschen, die aus Augen, Nase und Mund bestehen – doch die kann er nicht zu einem Gesicht zusammensetzen. Die Mutter trinkt und schlug ihn als Kind, als er sie beim Abholen vom Kindergarten nicht erkannte. Um seine Gesichtsblindheit zu kompensieren, führt er Listen über Menschen seiner Umgebung mit Merkmalen, um sie anderweitig erkennen zu können. Er erinnert sich an ein Erlebnis beim Angeln am Wolfgangsee im Ferienlager, als die Fische ewig zappelten, bis ein Schlag sie tötete.

Jury einhellig vom Text angetan

Insa Wilke sagte, sie fange irgendwo an. Bei Robotern gebe es das Problem, Gesichter menschenähnlich zu machen, um sie zum Beispiel in der Pflege einzusetzen. Es gehe um das Gesicht, wie auch im Text. Eine Stelle sei ihr aufgefallen: „Es gibt eine Person, die Schwierigkeiten hat, sich Gesichter zu merken. Das wird mit dem Bild vom Fisch im Netz in Verbindung gesetzt. An der Stelle, wo der Erzähler das Hilfsmittel der Liste verwendet, um sich zu merken, wer ist wer, wirft er die Liste wie ein Netz aus.“

Philipp Tingler sagte, es sei ein Text von hoher literarischer Qualität. Man habe es mit einer erbarmungslosen Schilderung der Ambivalenz der Opferdarstellung zu tun. Die Sehnsucht nach Anerkennung bringt das Opfer dazu, sich mit den Tätern zu identifizieren. Der Text sei „ein großes Erlebnis“. Brigitte Schwens-Harrant sagte, der Text werfe viele Fragen auf, das Schlimmste sei ja, wenn ein Kind die Mutter nicht erkenne. Es sei auch eine Gewaltgeschichte. Mara Delius schloss sich dem Lob der Jurykollegen an – mehr dazu in Jurydiskussion Anna Felnhofer.

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Publikum
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Publikum Tddl 2023 Erster Lesetag
Zuhörerin mit Kron
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Zuhörerin mit Krone
Mithu Sanyal und Insa Wilke
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Jurorinnen Mithu Sanyal und Insa Wilke
Jayrome C. Robinet, F/D
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Jayrome C. Robinet, F/D
Publikum TddL Tag 1
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Publikum TddL Tag 1
Peter Fässlacher und Kamerafrau
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Peter Fässlacher und Kamerafrau während Lesung
Insa Wilke Thomas Strässle
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Die Juroren Insa Wilke Thomas Strässle
Lektüre auf Papier und Handy-Display
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Lektüre auf Papier und Handy-Display
Klaus Kastberger, Mara Delius
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Klaus Kastberger, Mara Delius
Die Jury TddL 2023 erster Lesetag
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Die Jury TddL 2023 erster Lesetag
Andreas Stichmann
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Andreas Stichmann

Der erste Tag

Jayrome C. Robinet sorgte als erster Autor am ersten Lesetag für Diskussionen über Trennung zwischen Werk und Autor, Andreas Stichmann spaltete die Jury in der Frage über Konvention. Einhelliges Jury-Lob gab es für Valeria Gordeev und ihren Text über einen Putzneurotiker – mehr dazu in Erste Favoriten am ersten Tag. Der Text von Anna Gien fiel durch.

Lesung Anna Gien im Garten
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Das Wetter spielt in diesem Jahr bisher perfekt mit, das Publikum kann das Public Viewing im Garten mitverfolgen.