Yevgeniy Breyger
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Jurydiskussion Yevgeniy Breyger, UKR/D

Yevgeniy Breyger liest auf Einladung von Ina Wilke den Text „Die Lust auf Zeit“. Ein Mann wartet im Krankenhaus, in dem sei Vater wegen eines Schlaganfalls liegt und ringt um den Mut, zu ihm ins Zimmer zu gehen.

Der Ich-Erzähler sinniert über seine Familiengeschichte, den Urgroßvater, der im Gulag in Sibiren war, weil er einen Witz über Stalin gemacht hatte. Das Trauma der Familie, als er lebendig begraben wurde, vor den Augen von Frau und Kindern. Der Großvater, der mit einem Bein aus dem Krieg kam und die Geschichten, die in der Familie weitergegeben wurden. Am Ende steht er auf und geht vom Warteraum ins Krankenzimmer des Vaters, der in seinem Bett liegt und atmet.

Maria Delius: „Muss sich darauf einlassen“

Mara Delius sagte: „Danke für die ruhige, klare Lesung." Es sei „ein Text, auf den man sich einlassen muss. Wenn man so etwas sagt: Das mag in Klagenfurt klingen, als wäre es ein langweiliger Text, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich fand den Text sehr interessant, weil er das Motiv der Erinnerung und das Fortleben der Erinnerung behandelt.“

Mara Delius
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Mara Delius

Thomas Strässle: „Text hat auf Fingernagel Platz“

Thomas Strässle meinte: "Ich habe mich gefragt, was geschieht hier eigentlich, es ist nicht sehr viel, der Text hat auf einem Fingernagel Platz.“ Es sei ein endlos gedehnter Moment der Zeitlosigkeit. Man wisse nicht, seien es Minuten, Stunden, Tage, wo er sitzt. „Was bedeutet Entscheidung“ steht im Text, wie treffe das Ich die Entscheidung, den Raum zu betreten. „Es hat etwas Kafkaeskes, wenn es im Text heißt: ,Warum hast du so lange gewartet?‘ Man merkt, dass hier ein unerhört behutsames Sprachgefühl im Hintergrund steht, jedes Wort ist genau gesetzt und gewählt. Eine sehr große Sorgfalt im Umgang mit der Sprache und auch mit den Motiven.“

Thomas Strässle
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Thomas Strässle

„Lyriker schreibt Prosa“

Klaus Kastberger sagte in Richtung der Juryvorsitzenden: „Die Insa Wilke hat so ein unglaubliches Talent, Lyriker und Lyrikerinnen zum Prosaschreiben zu animieren.“ Der Text gehöre in die Kategorie des Prosa-Schreibens, aber „ich glaube, man braucht Geduld für diesen Text. Man muss sich auf ihn einlassen, man darf nicht nervös werden.“ Der Text sei „extrem politisch“ und stelle an vielen Stellen die Frage, was es brauche, um Geschichten zu erzählen. Der Text sei auch „unglaublich innovativ“ im Finden von Hilfsmitteln dafür. „Ich glaube, man könnte noch lange darüber diskutieren, ich werde ihn in Zukunft auch als Beispiel für Politologie in einem Seminar verwenden.“

Mithu Sanyal: „Ganz groß“

Mithu Sanyal sagte: „Ich liebe das Motiv des Schweißes total, vor allem, weil es hier in positiver Weise eingeführt wird. Für mich stellt der Text grundsätzlich die Frage: Was können Kurzgeschichten? Es ist sehr viel Familiengeschichte darin, über mehrere Generationen. Dann kommen auch politische Systeme rein. Es ist ganz, ganz groß. Gleichzeitig merke ich: Ich möchte mehr. Das Trauma ergreift mich, und dann merke ich: Ich weiß trotzdem zu wenig.“ Deshalb frage sie sich: Was können wir mit Kurzgeschichten – man müsse trotzdem „alles probieren“.

Mithu Sanyal
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Mithu Sanyal

Tingler fand Text „so mittel“

Philipp Tingler war in seinem Statement darum bemüht, „die Temperatur ein bisschen runterzukühlen.“ Und er führte dies auch wortreich aus. „Der Text erreicht mich nicht. Er ist wie in sich hermetisch. Der Text ist sehr gefangen im Ich.“ Philipp Tingler führte mehrere Textbeispiele aus. „Es kommen gewisse Sachen grundsätzlich ganz unvermittelt. Es tut mir leid, aber mir ist es nicht genug. Es wirft mich nicht um. Ich finde es so mittel.“ Klaus Kastberger warf ein: „Ich möchte darauf hinweisen: Immer, wenn Philipp Tingler sagt: Das ist mittel, dann wird er Bachmann-Preis-Sieger.“ Gelächter im Publikum. Tingler: „Das stimmt schon. Ich möchte gar nicht widersprechen. In der Regel sage ich das über die Texte von Herrn Kastberger.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Insa Wilke: „Was ist ein Mensch?“

Insa Wilke konterte auf die Kritik von Philipp Tingler: „Der Text verhandelt in meinen Augen Vieles. Nämlich, was ist ein Mensch? Wir haben hier die Menschen, die Zeit für den Tag haben und wir haben die Menschen, denen das nicht möglich ist, weil die Zeit für sie gar nicht mehr gilt.“ Und dann gebe es im Text einen Satz: „Ich strecke dir meine Hand entgegen und du mir deine.“ Es sei der Versuch, im Text einen Halt zu finden. „Ich verstehe nicht, wie man das nicht sehen kann“, so Insa Wilke in Richtung von Philipp Tingler. Applaus im Publikum.

Schwens-Harrant: „Erzählerisch gut eingefangen“

Brigitte Schwens-Harrant sagte: „Der Text macht im Grunde das, worüber er schreibt. Das gefällt mir sehr gut. Viele von uns waren leider auch schon in ähnlichen Situationen im Krankenhaus. Ich bekomme gerade eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Dieser Text macht es sehr fein. Ich finde es auch sehr gut verwoben. Es gibt die ganze Zeit einen Wechsel von Jetzt und Früher. Das ist erzählerisch gut eingefangen." Kritik gebe es von ihr aber an jenen Textpassagen, wo sich Unterbrechungen abzeichnen. „An wenigen Stellen erklärt er auf einmal – und er verlässt die Erzählebene. Das brauche ich gar nicht. Diese Erklärungen durchtreten den schönen poetischen Fluss.“

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Insa Wilke hakte noch einmal ein. Sie verstehe nicht, dass man „gewisse Motive“ beim ersten Lesen nicht bemerken würde. „Es sind Ungeheuerlichkeiten, die da im Text erzählt werden. Es regt mich auf, wenn man das nicht merkt“, legte Wilke nach.

Strässle blieb kritisch

Thomas Strässle blieb bei seiner kritischen Meinung über den Text. Es gebe „harte Schnitte“ in der Erzählung. Strässle führte Textstellen an, die für ihn „unüberblickbar“ seien.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Kastberger plädiert für Geduld mit dem Text

Klaus Kastberger sagte, „das ist ein Text, der nicht einfach drauflos erzählt, und keine Scham hat vor sich selbst, sondern das ist ein Text, der auch wirklich die Voraussetzungen bedenkt, wie man über Dinge reden kann. Gerade auch über die schrecklichsten Dinge, die historischen Abgründe. Es ist auch dieses Zögerliche – man könnte sagen, der Text weiß nicht so recht, wohin er will, aber nein, er eröffnet den Raum, wie kann und soll man eigentlich über Dinge reden. Es ist vielleicht ein Raum, wo man länger nachdenken muss, aber man muss sich die Geduld nehmen, da mitzugehen, und wenn man die Geduld nicht hat, dann ist es der falsche Text. Es gibt ja hunderttausend andere Dinge auch.“ Lobenswert fände er, Kastberger, auch die Formulierung „Quäntchen Qual“.

Thomas Strässle fand dann doch lobende Worte: „Der Einstieg ist wirklich grandios.“