Deniz Utlu Lesung
ORF/Johannes Puch
ORF/Johannes Puch

Jurydiskussion Deniz Utlu, D

Deniz Utlu liest auf Einladung von Thomas Strässle den Text „Damit du sprichst“. Die Geschichte einer Familie mit kurdischen Wurzeln, einem nach einem Schlaganfall sprachlosen Vater und Konflikten zwischen der pflegenden Mutter und dem heranwachsenden Sohn.

Der Ich-Erzähler ist ein Teenager. Der Vater hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen, die Mutter entwickelt ein System, mit dem sie ihn verstehen kann. Sie übernimmt, angewidert von der schlechten Pflege, selbst die Betreuung des kranken Ehemanns. Zuerst bei täglichen Besuchen in der Klinik, dann zuhause. Der Sohn ist mehr an sich selbst interessiert, an Musik, schreibt Gedichte, hat eine Freundin. Für die Nöte der Mutter hat er kein Verständnis, versteht auch nicht, was sie sich auflädt. Es kommt immer wieder zum Streit, doch die Mutter steht immer zu ihrem Sohn, wie sie zu ihrem Mann steht.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Insa Wilke sagte, sie hätte den Text ein bisschen anders gelesen. „Er hätte nicht den Druck der Lesung gebraucht“. Der Text schaffe Identifikationsmöglichkeiten, aber er verhandle nicht das Thema der Sprachlosigkeit, des Nicht-Sprechen-Könnens und des Sprechen-Könnens auf der sprachlichen Ebene. „Er verhandelt es auf der Ebene der Figuren, glaube ich“, so Wilke.

Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

Mara Delius: „Erzähler bleibt auf demselben sprachlichen Level“

Mara Delius meinte, dass über dem Text in Großbuchstaben SPRACHE, SPRACHE, SPRACHE stehen würde. „Umso verwunderlicher ist es, dass der Ich-Erzähler immer auf demselben sprachlichen Level, auf derselben Tonalität des leisen Nirwana-Hörers bleibt.“ Das habe sie gestört, auch wenn es viele überzeugende Teile in dem Text gebe. „Ich weiß, es ist kein Kriterium, das hier zählen sollte, aber das ist für mich ein großes Manko.“

Mithu Sanyal: „Vollkommen beeindruckt“

Mithu Sanyal hingegen zeigte sich „überrascht“ von den ersten Wortmeldungen, denn sie sei „vollkommen beeindruckt von diesem Text“. Besonders „toll“ finde sie die Gleichzeitigkeit aller Figuren. „Wir nehmen alle gleichzeitig wahr und wir verstehen, warum sie tun, was sie tun“, so Sanyal. Natürlich spiele der tragisch kranke Vater eine wichtige Rolle, aber es sei gleichzeitig wichtig, dass der Ich-Erzähler sein Leben leben müsse. Auch die Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Sohn spiele eine wichtige Rolle, auch wenn sie nicht immer kommuniziert werde. „Und die leise Sprache hat mich immer am Ball gehalten, ich bin nie ausgestiegen, ich wusste immer, wo es hingehen wird“, erklärte Sanyal.

Mithu Sanyal
ORF/Johannes Puch
Mithu Sanyal

"Geht auch um das Verstehenkönnen

Thomas Strässle sagte, es gehe nicht nur um Sprechen-Können oder nicht Sprechen-Können oder nicht Sprechen-Wollen, „sondern um Verstehenkönnen und nicht Verstehenkönnen“. Die Prozesse würden laut Strässle „großartig“ dargestellt. „Es wird hier nicht erklärt, es wird vorgeführt. Dass die Dinge im Text erzählt werden und eben nicht erklärt werden, ist eine ganz große Stärke.“

Insa Wilk, Thomas Strässle, Birgitte Schwens-Harrandt, Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Thomas Strässle

Klaus Kastberger zieht Thomas Bernhard vor

Klaus Kastberger hingegen sagte, „es tut mir leid, ich kann aus meiner Haut nicht raus, ich lese nach wie vor Thomas Bernhard lieber als solche konventionell erzählten Texte. Was Thomas Strässle grandios und toll findet, das trifft nicht meinen Geschmack. Auch das Ende finde ich sehr aufgesetzt. Ich habe weder die Geduld, den langen Text zu lesen noch die Geduld, den langen Faden nachzuvollziehen. Mir ist es zu konventionell, ich bin nicht der richtige Leser dafür.“

Auf Einwand von Thomas Strässle führte er Kastberger noch weiter aus: „Es ist alles ausbuchstabiert, es steht alles drinnen, es stellt mich vor keine Schwierigkeiten, es ist alles fünfmal gesagt, es ist mir zu brav, es ist mir zu bieder, es mir zu wenig spannend.“ Es gebe keinen Bruch. „Es plätschert dahin. Ich habe die Geschichte schon gelesen, bevor sie geschrieben wurde“, so Kastberger.

Klaus Kastberger
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger

Tingler stimmt Kastberger zu

Philipp Tingler: „Ich könnte so sagen: Ich finde den Text so mittel. Das würde dann seine Chancen erhöhen. Ich sage aber etwas, was mich selber überrascht: Ich finde Herr Kastberger hat ziemlich recht. Dieser Text leidet an einem inhärenten Paradox.“ Die Motive in dem Text würden keinen Raum für Ambivalenz bieten, da sie bereits in einem „zu festen Umriss serviert werden“, meinte Tingler.

Brigitte Schwens-Harrant sagte, sie wolle gar nichts mehr dazulegen, denn „Klaus Kastberger hat es schon – viel wilder als ich es getan hätte – zugespitzt. Und ich bin schon nervlich am Ende dieser Tage und etwas milder geworden.“ Sie wolle daher nicht nachtreten.

Insa Wilke: „Unterschiedliche Formen der Literatur“

Insa Wilke ergänzte in Richtung Philipp Tingler („auch wenn er sich wieder ärgert“), dass es unterschiedliche Formen von Literatur gebe, die unterschiedlich betrachtet werden können. Ihr seien auch Texte auf der sprachlichen Ebene näher, aber sie finde es „absolut legitim, dass es hier auf der Figurenebene“ erzählt werde, „sodass viele auch einsteigen wollen. Hier werden unheimlich viele starke Bilder entworfen“.

In Deutschland sei nach den Wahlen in der Türkei die Situation der deutsch-türkischen Familien sehr stark diskutiert worden, warum so viele für Präsident Erdogan gestimmt hätten. „Die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland weiß sehr wenig über die türkische Geschichte und den Konflikt von Türken und Kurden. Das ist für mich etwas sehr wichtiges an dieser Geschichte. Es werden Bilder entworfen, die in Erinnerung bleiben und etwas vermitteln“, erklärte Wilke. Applaus im Publikum.