Anna Gien Lesung
ORF
ORF

Jurydiskussion Anna Gien, D

Ann Gien liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Eve Sommer“, Tagebucheintragungen von Eve in unregelmäßigen Abständen. Die Ich-Erzählerin schildert Träume wie über eine Begegnung mit Thomas Bernhard oder Besuche bei ihrer Großmutter im Pflegeheim.

Delius eröffnete die Jurydiskussion. Sie sagte, dass Anna Gien die „etwas herausfordernde Situation“ gehabt habe, dass sie als Letzte an diesem Tag ihre Geschichte vorgetragen habe. „Ich finde, Sie haben sehr, sehr klar und ruhig – und mit einer gewissen Härte gelesen, was mir sehr gut gefallen hat. Es handelt sich um Notizen einer Frau, die gewissermaßen außer sich ist. Sie scheint in einer Welt zu schweben, die gar nicht aus der Wirklich besteht, sondern aus Gefühlseinsichten zusammengesetzt ist“, so Delius.

Klaus Kastberger, Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

Hinter jedem Gefühl stecke in dieser Erzählung eine Welt. Es sei ein blindes Nach-Etwas-Suchen. Der Text sei „sehr anders“, als die meisten, „die wir bisher gehört haben“. Es gebe keine lineare Handlung, sondern eher symbolische Tonbilder. Es erinnere sie an Motivketten, die immer wieder auftauchen würden, wie der Wald, die Stechmücken oder die schwere Luft. Der Text erschaffe „eine reine Form von Empfindungswelt", so Delius.

Wilke: „Geflucht beim Lesen“

„Ich habe so geflucht beim Lesen“, sagte hingegen Juryvorsitzende Insa Wilke. „Weil ich mir einen abgebrochen habe, das alles zu interpretieren“. Sie sei schon am Anfang verwirrt gewesen, sagte Wilke. Man werde sofort in ein Durcheinander geworfen. Es sei ihr nicht klar, ob sie total auf dem Holzweg gewesen sei, aber „irgendwann habe ich so kleine Signale gesehen. Es ist eine steile These: Ich musste an die Figuren in der Serie Westworld denken. An die künstlichen Figuren, die da aufgeweckt werden.“ Sie habe auch das Gefühl gehabt, dass er der Text sei, „mit dem wir in dieser Runde über KI diskutieren können.“

Thomas Strässle musste sich konzentrieren

Thomas Strässle erklärte eingangs, er habe „nicht geflucht“, aber er habe sich auch sehr konzentrieren müssen. Er hatte ebenfalls eine „steile These“, wie er es nannte. Der Satz „Etwas haust in uns, das aus dem Schweigen gewachsen ist. Das Schweigen, das sein musste, damit wir miteinander sprechen konnten." Dieser Satz könne aus einem Brief von Max Frisch stammen, mit dem er sich nun zehn Jahre lang beschäftigt habe. Es gebe in dem Text sehr viele Anspielungen. Strässle nannte das Beispiel vom Welpen, wo es im Text heiße: „Ich weiß, er hat überlebt, aber er ist ertrunken.“ „Da kriege ich ein logisches Problem, das ich nicht lösen kann“, so Strässle.

Mithu Sanyal und Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Mithu Sanyal

Mithu Sanyal: "Unangenehm und positiv

Mithu Sanyal sagte, der Text habe sie „persönlich unangenehm aber auch positiv angefasst“. Es sei eine Form, wie sie selbst lange geschrieben habe. Sie habe das Gefühl gehabt, dass sie sich „sehr nackt“ gemacht habe darin. Sie habe es bisher gehasst, so zu schreiben. Irgendwie sei es aber auch mutig. „Alles, was ich mir abtrainiert habe, macht dieser Text in einer gewissen Radikalität, die ich mich nicht trauen würde“, so Sanyal. Sie wisse immer noch nicht, was sie von dem Text halten solle. Es sei ein schmerzhaftes Erlebnis gewesen, den Text zu lesen. Das sei zugleich das Mutige daran. Sie bewundere die „totale Ehrlichkeit“ in der Thomas-Bernhard-Szene. Es sei ihr aber noch nicht klar, ob sie es ertragen könne.

Tingler: „Wen interessiert das“

Philipp Tingler begann sein Statement damit, dass er es langweilig finde, „wenn Leute mir ihre Träume erzähle“. Aber diese Geschichte werfe die Frage auf, wen das interessiere. Und das meine er ganz ernsthaft. Für ihn gebe es vereinzelte gelungene Stellen, doch das sei ihm beim Lesen etwas passiert, der Text sei ihm auf den Boden gefallen. Es habe sich um die noch ungeheftete Version gehandelt. „Dann habe ich festgestellt, man kann ihn in irgendeiner Reihenfolge lesen. Das spielt überhaupt keine Rolle.“ Der Text bemühe sich um keine Form von Zusammenhang.

Brigitte Schwens Harrant
ORF
Brigitte Schwens-Harrant

In Richtung von Mara Delius sagte Tingler: „Mara, ich kann nicht glauben, dass du Dir Sätze servieren lässt wie: Ich halle in die Sonne, in die Sanftheit des Lichts.“ Das sei, wie wenn man das Programm ChatGPT darum bitten würde, einen Bachmann-Text zu schreiben.

Klaus Kastberger: „Wirft Fragen auf“

Klaus Kastberger stellte sich beim Lesen des Textes laut eigener Aussage die Frage: „Ist das schon Literatur oder ist es das, was vor der Literatur liegt?“ Er glaube, dass dies bewusst so gemacht sei und der Text bewusst diese Frage stelle, weil er sich als Eintrag eines Tagebuchs gebe. Er habe noch nie so „ein liebevolles Bild von Thomas Bernhard gezeichnet bekommen", so Kastberger. Trotz aller Bedenken halte er den Gedanken für originell, „dass man den Bernhard einmal als sexuelles Wesen sehen kann. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, dass er eine Sexualität hat. Das fand ich einen Gedanken, der durchaus spannend ist.“ Vielleicht werfe der Text für ihn mehr Fragen auf, als er beantworten würde.

Schwens-Harrant: Tagebucheintrag literarisch schwierig

Laut Brigitte Schwens-Harrant ist die Form des Tagesbucheintrages „literarisch ein bisschen schwierig“. Es sei für sie ein „ganz großer Haupteinwand“, dass sich sprachlich in dem Text „eigentlich nichts“ verändere. Es seien auch keine Stimmungswandlungen zu bemerken. Es bleibe die Frage, ob der Text glaubwürdig sei. „Und passen Form und Inhalt zusammen?“ Der Text trete auf der Stelle. Es sei nur eine Bewegung „zum Pathetischen hin“ zu erkennen.

Philipp Tingler schaltete sich ein: „Einfach einmal Kortison zu erwähnen, oder zweimal, das sorgt noch nicht für die Literarizität.“

Sanyal: „Text will nicht mit mir reden“

„Tatsächlich hab ich mit der Literarizität kein Problem“, meinte hingegen Mithu Sanyal. Wenn man sich frage, warum man den Text lesen solle – „der Text richtet sich nicht an dich oder mich. Da sind nicht wir angesprochen, sondern jemand, den wir nicht kennen.“ Es sei ein innerer Monolog. „Das heißt, es ist ein Text, der nicht mit mir reden will“, so Sanyal. Der Text mache ganz viel und trotzdem berühre er sie nicht. „Weil er mich nicht anspricht und weil er mich nicht will.“

Philipp Tingler: „Also ist Deine These: Der Text will gar keine Leserschaft."

„Zumindest nicht als Leserschaft. Aber Mara, dich will er ja“, sagt Mithu Sanyal in Richtung Mara Delius.

Klaus Kastberger und Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger

Wen will der Text?

Mara Delius erwiderte: „Ich glaube, er will uns alle unbedingt und das Experiment hat wunderbar funktioniert. Ich lass mich durch Eure Äußerungen nicht mehr davon abbringen, dass wir hier vorgeführt werden. Solange niemand mit mir über Authentizität und Authentizitätserwartung in der heutigen Zeit diskutiert, kann ich mit dem Text nicht weiterarbeiten.“

Klaus Kastberger: „Ich glaube, es geht auch um etwas anderes. Für mich schafft es der Text nicht, die Autorin aus dem Text heraus als entäußerndes Subjekt zu statuieren – das ist die Schwäche.“ Insa Wilke lieferte das Schlusswort: „Ich glaube, wir wurden gerade genüsslich zum Frühstück verspeist.“