Andreas Stichmann Lesung
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Jurydiskussion Andreas Stichmann, D

Andreas Stichmann las auf Einladung von Mara Delius den Text „Verwechslungen“. Der Ich-Erzähler befindet sich wegen Nesselsucht stationär in der Allergieklinik. Er verwechselt zuerst einen Pfleger und dann einen Patienten mit einem alten Kumpel. Pfleger Pepe nennt das „Gefühlsdisko“.

Juryvorsitzende Insa Wilke eröffnete die Diskussion. Sie sagte, der Erzähler hätte die Gefühlslagen sehr exzessiv vortragen können. Man habe es hier mit einem Ich-Erzähler zu tun, der versuche, sich mitzuteilen. Der unter Druck sei, der aber auch Sehnsucht nach Nähe habe. Es gebe im Text „ganz schöne Kleinigkeiten“, die „etwas anderes aufmachen“ würden. Es handle sich um kleine feine Einbettungen im Text, die etwas anderes machen würden. Diese seien zwar zurückhaltend, „aber auf mich eine enorme Wirkung dann auch haben“.

Mara Delius: „Unkonventioneller Text“

Mara Delius, die den Autor eingeladen hatte, sagte, für sie sei der Text „sehr unkonventionell“, auf eine „sehr subtile Art und Weise unkonventionell“. Der Text heiße zwar „Verwechslungen“, handle aber vielmehr von Fallen der Identität. Der Text sei herausragend, „da wir es hier mit einem Schriftsteller zu tun haben, der über die literarischen Mittel“ verfüge und der wisse, wann er sie einsetze. Es sei zugleich ein subtil-komischer Text, der in der Literatur selten vorkomme, „wie wir auch in den nächsten Tagen sehr werden“, wie Mara Delius anmerkte. Man könne annehmen, dass der Text „langweilig“ sei, doch der Verfasser sei „ein Meister der Auslassung“.

Mara Delius
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Mara Delius mit Klaus Kastberger

Thomas Strässler sah in der Verbindung aus dem Schläger und Pfleger eine „sehr interessante Konstellation“. Anerkennend sei die „Selbstdistanz und Selbstironie“ der erzählenden Person hervorzuheben. „Auch die eigenen Schwächen“, die sich der Erzähler eingestehen könne.

„Klassischer Klinik-Kontext“

Philipp Tingler sprach in seiner Analyse von „pseudopsychologischen Phrasen“. Der Klinik-Kontext sei ein klassisch-literarischer Topos. Die Verwechslung in dem Text sei nicht buchstäblich zu verstehen, sondern auch eine Verwechselung der Zeit. Es handle sich um einen andauernden Versuch des Erzählers, zu rekonstruieren, was tatsächlich passiert sei. „Das ist schon sehr gut gemacht“, wie Tingler bemerkte. Insgesamt besteche der Text durch eine „verlangsamte und verwunschene Atmosphäre“. Man müsse sich auf die Verwunschenheit des Textes einlassen. Dieser sei „sehr stringent“ komponiert.

Sanyal fand Text banal

Mithu Sanyal fand, dass alles, was im Text gesagt werde, „banal“ sei. „Wir versuchen dahinterzukommen: Was bist du? Wer bist du? Was ist mit dir los?“ Tatsächlich bekomme man das aber bis zum Ende hin nicht gesagt. „Der Text macht ganz viel mit mir“. Es sei aber nicht erkennbar, ob es ein „Romanauszug“ sei und ob es „irgendwann eine Auflösung“ gebe.

Mara Delius: Das sei doch das Wunderbare an dem Text, dass es nicht aufgelöst werde. Mithu Sanyal: „Leider hält mich der Text am Ende draußen, ich möchte aber rein.“ Klaus Kastberger bemerkte auf die anschließende Nachfrage, dass er im Text „drinnen“ sei.

Mithu Sanyal und Insa Wilke
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Mithu Sanyal

Kastberger: Germ ist Hefe

Er sagte, er finde den Namen Alexander Germ herausragend, auch wenn ihm nicht klar sei, ob in Deutschland die Bedeutung des Wortes Germ bekannt sei, was in Österreich mit Hefe gleichzusetzen sei. Es gefalle ihm gut, dass der Pfleger zum Schläger werde. Es gebe kurze filmische Cuts. „Das gefällt mir alles sehr gut“. Er finde es allerdings fast zu perfekt. Er sei zu risikolos. Man dürfe sich von Frau Delius nicht verschrecken lassen. Der Text sei letztlich nicht perfekt, sondern eher im Mittelfeld.

Deliuis sagte darauf, dass sie nicht gesagt habe, dass es sich um den besten Text handle. Die subtile Komik sei jedoch ein wesentliches Merkmal und werde in vielen anderen Texten dieses Wettbewerbes nicht zu finden sein.

von links Thomas Strässe mit Brigitte Schwens Harrant und Philipp Tingler
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Brigitte Schwens-Harrant

Schwens-Harrant: unzuverlässiger Text

Brigitte Schwens-Harrant meinte, man könne den Text als „konventionellen Text“ verstehen, das sei gar nicht negativ gemeint. Sie sei ein Fan von Texten mit unzuverlässigen Erzählungen. „Ich glaube aber, dass auch das Unzuverlässige hier zu überdeutlich ist, dass es mir keine Abgründe aufmacht. Ich weiß auch am Ende nicht, wozu und wohin das jetzt führt.“

Insa Wilke sagte, der Erzähler sei absolut verlässlich, „ich weiß auch sofort, was hier los ist.“ Man könne den Text ganz psychologisch lesen. „Wir haben hier eine klassische männliche Figur in der Männlichkeitskrise.“ Man könne alles wiedererkennen. Das sei zugleich die Komik des Textes. Sie hätte sich aber „auch Brechungen gewünscht“, wie Winkens anmerkt.

Klaus Kastberger ortete „ein gutes Handwerk", das sich hier zeige. Ob man dies gut oder schlecht finde, komme darauf an, von welcher Seite man es sich anschaue. Mara Delius sagte, sie verstehe in der Jurydiskussion den Punkt nicht, „dass der Text Räume öffnet, die er dann nicht mehr schließt“. Durch den Text würden neue Verbindungen hergestellt.

Loriot im Text oder nicht

Mithu Sanyal sagte, ihr fehle ein bestimmtes Instrumentarium für den Text. Sie komme nicht in den Text rein. Klaus Kastberger meinte, der Text sei fad und langweilig. Mara Delius schaltete sich ein, es dürfe nicht wahr sein, dass einer der Texte nun als schlechter Text sei, weil man ihn „nicht identifikatorisch“ lesen kann. Dann müsse man den Bewerb abbrechen. Ob der Text etwas mit Loriot zu tun habe – oder doch nicht – darauf konnte sich die Jury trotz lebhafter Diskussion nicht einigen. Abgebrochen wurde der Bewerb freilich nicht. „Ich wollte es nur einmal schärfen“, wie Mara Delius am Ende der Diskussion anmerkte.