Valeria Gordeev
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Valeria Gordeev, D

Die deutsche Autorin Valeria Gordeev liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Er putzt“ über einen jungen Mann, der das Putzen zur Kunst erhebt. Der auch an Stellen putzt, die niemand sieht. Die Jury zeigte sich durchwegs angetan.

Mit seiner Mutter führt seine Putzleidenschaft oft zum Streit, weil sie im Gegensatz zu ihm nachlässig und schlampig ist. So putzt er hinter ihr her, mit einer seltsamen Befriedigung, dass alles so schmutzig ist. Seine zehnjährige Schwester schaut mit ihrer Freundin „Emergency Room“ und er folgt – putzend – der Geräuschkulisse der Sendung. Er sinniert darüber, dass er die Putz-Wattestäbchen vor seiner Schwester verstecken muss, damit sie sich nicht die Ohren damit verletzt.

Strässle zeigt sich begeistert

Juror Thomas Strässle meldete sich zuerst zu Wort. „Ich will bekennen, ich bin von diesem Text begeistert. Ein kolossal guter Text. Mit welcher Präzision alles sprachlich abgebildet wird, finde ich großartig gelungen“, so Strässle. Es werde neurotisches Denken vorgeführt, der Kontrast zwischen dem Erzähler und der Schwester komme gut zum Vorschein. „Alles in allem wirklich ganz toll gemacht.“ Man müsse das erst einmal ganz genau erklären können, wie man einen Abfluss in einer Spüle reinigt. „Nachdem ich das gelesen habe, habe ich mich selber in meiner Wohnung unwohl gefühlt – ich habe aber der Versuchung widerstanden, in meiner Wohnung eine Putzorgie zu veranstalten“, sagte Strässle.

Thomas Strässle
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Thomas Strässle

Tingler: „Eine Welt des Schmutzes“

Philipp Tingler gab auf Nachfrage zu Protokoll, dass er das Putzen zuhause „gar nicht“ selber erledige, um sich dann dem Text zuzuwenden. „Hier wird eine Welt entworfen – und das ist das, was Literatur auszeichnet – eine Welt des Schmutzes.“ Es gebe in dem Text großartige Blendungen. Die Welt der Bakterien werde als strukturierte geordnete Gesellschaft geschildert.

„Ich finde das sehr gekonnt gemacht“, so Tingler. Zugleich gebe es die komplexe Figur des Konstantin. „Obwohl er selber gefangen ist in diesem Kreislauf, macht er sich Sorgen um seine Schwester, die eine andere Form von Störung zu entwickeln scheint.“ Irritierend habe er nur „die eine Stelle“ gefunden, „wo es dann wirklich nicht stimmt.“ Denn – so Tingler – niemand würde etwas in die Tiefkühltruhe legen, um Keime zu vernichten. „Wie wir in der Pandemie gelernt haben, leben Keime auf Tiefkühlprodukten.“ Dieser „Lapsus“ sei nicht stimmig.

von links Thomas Strässe mit Brigitte Schwens Harrant und Philipp Tingler
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Philipp Tingler, daneben Brigitte Schwens-Harrant

Mithu Sanyal: „Faszinierend“

Mithu Sanyal sagte, die Geschichte sei „so faszinierend, dass ich fast vergessen habe, was ich sagen wollte.“ Einen kleinen Einschub gab es von ihr dennoch. Sie sei immer dabei gewesen, den Text zu sortieren, denn es habe so viele Informationen gegeben. „Da hätte ich mir gewünscht, dass ich die Informationen wieder losgeworden wäre.“ Verwundert habe sie auch das Ende. „Ich hing noch daran, wo ist denn der letzte Satz“. Sie dachte, es handle sich vielleicht um einen Fehler auf dem Gedruckten.

Brigitte Schwens-Harrant: „Chapeau auch für das Tempo der Erzählung.“

Brigitte Schwens-Harrant lobte, dass der Erzählfluss „an keiner Stelle verlassen worden“ sei. Da gehöre schon etwas dazu, das sei „gut gemacht“. „Chapeau auch für das Tempo der Erzählung.“ Die Autorin habe die langen Sätze gut vorgetragen „Ich würde darüber stolpern“, sagte Schwens-Harrant etwa mit Verweis auf die zweite Seite des Textes. Die Autorin habe es großartig gelesen „und nie das Tempo verloren.“ In der Erzählung werde „das Bedürfnis nach einer heilen Welt gestillt, in der alles in Ordnung ist.“ Man befinde sich nicht nur im kleinen Privaten, sondern in einem anderen Raum.

Mithu Sanyal und Insa Wilke
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Mithu Synal und Insa Wilke

Insa Wilke: „Neurotischer Mensch mit Hingabe“

Auch Insa Wilke lobte, dass der Text „trotz extremer Engführung einen weiten Raum“ schaffe. „Das ist die Kunst dieses Textes“. Man könne einen neurotischen Menschen lesen, aber auch einen Menschen, der sich durch Hingabe und Sorgfalt auszeichne. Der Text handle aber nicht nur vom Putzen, sondern auch über Kriege. Wenn etwa Putzflaschen als „Truppe“ bezeichnet werden. Der Kontrapunkt sei die Hingabe der Hauptfigur, das gebe dem Text eine Wärme.

Mara Delius sagte, sie „muss wieder etwas runterkühlen“. Sie habe die Hingabe im Text „überhaupt nicht gelesen“. Sie dachte erst, sie könne mit dem Text nichts anfangen, vor allem durch das Setting der übergenauen Schilderung des Putzens. Bis sie verstanden habe, dass es um das Motiv der Neurose gehe.

Lesung Valeria Gordeev
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Sophie Gordeev verwurstelte ihre Blätter und freute sich nach Ende der Lesung, dass doch noch alles gut gegangen war

Lob auch von Klaus Kastberger

Klaus Kastberger sparte nicht mit Lob. Er sagte, es sei für ihn „ohne Zweifel einer der Lieblingstexte“ im gesamten Bewerb. Der Texte sei immer spannend und nehme einen mit. Das Putzen sei auch auf einer zweiten Ebene lesbar. Man nehme der Autorin ab, dass sie alles über das Putzen wisse. Man habe aber auch das Gefühl, das Putzen sei ein Dienst an irgendeiner Sache. „Es bleibt die spannende Frage, an welcher Sache wird hier Dienst gemacht“, so Kastenberg. Das Spiel mit dem Hakenkreuz hätte es für ihn allerdings nicht gebraucht. Das Spiel mit dem Putzmittel und dem Saubermachen hätte Kastberger bereits gereicht.

Die eigenen Wohnung anders sehen

Er habe sich beim Lesen übrigens auch gedacht: „Wie schaut es denn bei mir zuhause aus“, wie Kastberger süffisant anmerkte. Er schaue in seinen eigenen vier Wänden nie in gewisse Zonen rein. Nachdenklich habe ihn das Ende gestimmt. „Es zeigt, wie man Schreiben kann und wie man mit jeder Konzentration auf ein Blutfleckchen immens viel Text produzieren kann.“ Für ihn ergebe sich daraus die Frage, was könne man außerhalb der Küche noch alles putzen. Es sei ein hochinteressanter Text, der in keiner Sekunde langweilig sei, auch wenn es nur um den langweiligen Vorgang des Putzens gehe.

Insa Wilke sagte in Richtung Klaus Kastberger, dass das „Nazis raus“ unbedingt im Text notwendig sei. Wilke verwies auch auf die Komik des Textes. Beim zweiten oder dritten Lesen habe sie lachen müssen, denn sie habe sich erst zurechtfinden müssen. Es sei das Schöne an der Literatur, dass man in den Menschen hineinschauen könne.

Sanyal: „Wir sind alle neurotisch geworden“

Mithu Sanyal sagte, sie müsse „total ehrlich“ sein. „Vor fünf Jahren hätte ich mich bei diesem Text total gelangweilt. Jetzt nach der Pandemie muss ich sagen, es ist ein hochpolitischer Text. Wir alle sind ihrer Mann geworden. Wir alle sind zwangsneurotisch geworden“, so Sanyal lächelnd. Philipp Tingler warf ein, dass man mit dem Ausdruck der Zwangsneurosen vorsichtig umgehen müsse.

Mithu Sanyal
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Mithu Sanyal

Klaus Kastberger hatte diesmal das Schlusswort. Es sei ein schöner Text, der eine Ausweglosigkeit in sich habe. Das habe auch mit einer Pandemie-Erfahrung zu tun. „Der Glaube, ich könnte mit den Infektionen umgehen und könnte ihnen mit den Hygienemitteln bekommen, und dann sehe ich, dass man mit Wattestäbchen genau das Gegenteil dessen erreicht, dass man erreichen wollte. Das ist vielleicht auch etwas, was den Text so sehr an mich herankommen lässt“, so Kastberger. Der Text bringe eine gesellschaftliche Dynamik auf den Punkt, die keine einfachen Lösungen kenne.

„Vielen Dank für die interessante Besprechung“, sagte Autorin Valeria Gordeev zum Abschied.