Anna Felnhofer
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Anna Felnhofer, A

Anna Felnhofer liest auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text „Fische fangen“. Geschildert wird ein 17-Jähriger, der in der Schule verprügelt wird, der gesichtsblind ist und daher seine Mitschüler genauso wenig erkennt wie seine Peiniger oder seine Mutter. Die Jury lobte den Text einhellig.

Jedes Jahr beginnt er eine neue Klasse mit fremden Menschen, die aus Augen, Nase und Mund bestehen – doch die kann er nicht zu einem Gesicht zusammensetzen. Die Mutter trinkt und schlug ihn als Kind als er sie beim Abholen vom Kindergarten nicht erkannte. Um seine Gesichtsblindheit zu kompensieren, führt er Listen über Menschen seiner Umgebung mit Merkmalen, um sie anderweitig erkennen zu können. Er erinnert sich an ein Erlebnis beim Angeln am Wolfgangsee im Ferienlager, als die Fische ewig zappelten, bis ein Schlag sie tötete. Seine Peiniger stehlen im seine Gesichterliste, das merkte er, als sie ihn verprügeln. Er denkt an den einen Fisch, der geduldig sein Schicksal erwartete, in Würde. Und lacht mit denen, die ihn quälen.

Anna Felnhofer
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Anna Felnhofer

Insa Wilka: Menschen fangen in einem Netz

Insa Wilke eröffnete die Jurydiskussion, ihr sei eine Stelle „sehr aufgefallen“, es gehe offenbar um eine Person, die sich Gesichter nicht merken könne und das werde mit dem Bild des Fisches in Verbindung gesetzt, der im Netz gefangen werden wolle. Ihr sei aufgefallen, dass die Liste der Personen wie ein Netz zu sehen sein. „Die Leute, die da draufstehen, wollen gefangen werden von diesem Netz. Wenn das Netz aber unzuverlässig ist, widerspricht es den Bedürfnissen des Kollektivs, das gefangen werden möchte.“ Es sei ein kompliziertes Thema in dem Text. Man könne die Struktur des Textes auch als Entsprechung verstehen – so könnte man die schwierige Struktur erklären und logisch in Verbindung bringen mit einem der Themen, die sie im Text erkennen könne.

Mithu Sanyal
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Mithu Sanyal

Mithu Sanyal: „Sinnlich eingenommen“

Mithu Sanyal sagte, der Text überraschend mit seinen Raum-Metaphern. Alles werde als Raum wahrgenommen. „Das habe ich noch nie in dieser Form an einem Text gelesen. Das hat mich sehr sinnlich eingenommen.“ Durch das Springen der Szenen sei sie immer noch unsicher, wie alt die Person in der Gewaltszene sei. „Das ist kein 17-Jähriger, das ist ein Jüngerer“, meinte Sanyal. „Ich versuche ein Alter von ihm zu fassen, das entzieht sich mir.“ Nicht glaubwürdig sei für sie ein einziger Punkt, „dass es keine Wärme und keine Hoffnung gebe.“ Es sei doch ein warmer Text, also müsse auch Wärme hineinkommen. Das wäre ihr einziger Kritikpunkt, dass es eine „zu apokalyptische Welt der Gewalt“ den Schwächerem gegenüber darstelle. Was inhaltlich jedoch wiederum motivierend sei.

Insa Wilke und Thomas Strässle
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Thomas Strässle

Thomas Strässle: „Behutsamer Zugang“

Thomas Strässle meinte, er könne keinen Kritikpunkt einbringen, es ist ein sehr komplexer Text, der einen „sehr behutsamen Zugang“ einfordert. Im Zentrum stehe ein Gewaltgeschehen, eine Gruppe von drei Leuten, die aber in einer größeren Gruppe angehöre. Man könne die Analyse vom ersten Satz her angehen: „Man muss ihn, das weiß er, prügeln.“ Vom gehe dieses Müssen aus? „Von den Leuten, die die Person prügeln? Oder geht es von der Person aus, die geprügelt wird?“

Jemand sehne sich in der Geschichte nach einer Anerkennung, nach einer Aufmerksamkeit. „Und diese Anerkennung kann er nur dadurch erlangen, indem die Person zum Opfer werde“, so Strässle, der sagte, dass er den Text mehrmals gelesen habe, weil er ihn so anspruchsvoll gefunden habe. Es handle sich um den Vorgang der Anerkennung, indem man für sich letztlich nur den Weg anerkennt zu werden, indem man Opfer einer Gewaltsituation werde. „So schrecklich das ist. So habe ich es versucht mir zusammenzureimen.“ Bei der Schilderung der Hingabe in die Opferrolle sei sehr subtil und sehr klug gearbeitet worden.

Tingler: „Text ist großes Erlebnis“

Philipp Tingler: „Sie werden überrascht sein, ich will nicht widersprechen. Ich will genau da anschließen. Es sei ein Text von sehr hoher literarischer Qualität. Er verwies auf die Stelle, wo es sinngemäß heiße: „Der Vater hat die Mutter sitzen lassen, die seither so sitzengeblieben war." Das ist eine großartige Formulierung, der so unglaublich viel über die Figur transportiert. Das sei sprachlich beeindruckend“, so Tingler. Das Ambivalente in der Literatur sei ein Wert an sich. „Wir haben es mit einer erbarmungslos präzisen Schilderung der Ambivalenz des Opfer-Daseins zu tun.“

Brigitte Schwens Harrant und Philipp Tingler
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Philipp Tingler mit Insa Wilke

Der Fisch sei das Sinnbild des Gefangen-werden-Wollens. Die Sehnsucht nach Anerkennung sei so groß, dass sich das Opfer mit den Tätern identifiziere. „Das ist schon auch ein Tabubruch und eine unerhörte Erkenntnis. Sie wird formuliert in einer Feinheit und in einer Präzision und vor allem mit einer nicht moralisierenden Unaufdringlichkeit, die diesen Text zu einem großen Erlebnis macht", so Tingler.

Brigitte Schwens-Harrant: „Selten solche Texte“

Brigitte Schwens-Harrant sagte: „Ich finde auch, dass man selten solche Texte vorliegen hat.“ Sie erinnerte an die Eröffnungsrede des Bachmannpreises. Was könne man mit der Sprache angesichts des Krieges machen. „Man kann daran verzweifeln, oder man kann die Sprache schon auch verwenden, um etwas sichtbar zu machen. Das haben wir auch hier vorliegen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir so einen Text hier haben und es ist unglaublich wichtig, Sprache in dieser Funktion zu sehen, wie in diesem Text.“

Es stecke sehr viel drinnen, „es ist wie ein Text zur Stunde“, gerade, weil er diesen Gewaltakt erzähle. Auch die Thematik der Identität sei in diesem Text enthalten. Man sehe Elemente eines Gesichts, das sich aber nicht zusammensetzen könne. Das werde in der Szene des kleinen Kindes im Kindergarten angedeutet. „Ein Kind, das die Mutter nicht erkennt. Das ist doch das Schlimmste – und zwar für beide.“ Man könne dies aber auch auf die Gesellschaft beziehen. Wie bildet sich die Gesellschaft, wenn man Gesichter nicht erkennen kann? Der Text werfe somit viele Fragen auf.

Delius schloss sich dem Lob an

Mara Delius sagte, sie wolle sich „langweiligerweise“ dem Lob anschließen. Sie wolle auch Brigitte Schwens-Harrant dafür loben, dass sie „sehr oft hochkomplexe Texte“ in den Bewerb mitbringe. An dem Text sei so beeindruckend, dass die Form des Textes den Text mitbeachte, wenn er forme oder umforme.

„Unfassbares Einverständnis des Opfers“

Klaus Kastberger erinnerte an andere Literatur zum Thema Folter. Diese beinhalte immer wieder das unfassbare Einverständnis des Opfers mit seiner Rolle. Das sei das Schrecklichste. „Das war auch bei den Moskauer Schauprozess das gleiche. Am Ende gibt es ein Einverständnis. Das ist psychologisch schwer zu erklären, aber das ist irgendwie so.“

Genau das sei in dieser Geschichte geschehen. Kastberger zitiere einen Satz: „Aus ihrem Sitzengeblieben-Sein erhob sich die Mutter plötzlich.“ Da habe er aufhorchen müssen. Der Satz bringe etwas auf den Punkt. „Was macht das Sitzengeblieben-Sein. Es macht einen Seins-Zustand“, so Kastberger. Sein-Zustände können laut Kastberger als gesellschaftliche Verhältnisse verstanden werden. Das sei doppelt stark, dass der Text an dieser Linie arbeite, so Kastberger. Es würden Prozesse passieren, die man sich kaum erklären könne, „die aber in der Form des Textes ihre Wahrheit bekommen.“ Der Text mache es auf einer grammatikalischen Ebene. „Deshalb glaube ich ihm. Und deshalb glaube ich sogar, dass der Fisch eine Würde haben könne. Auch das glaube ich dem Text noch.“

Tingler sprach von Würde

Philipp Tingler kam nochmals auf den Begriff der Würde zu sprechen: „Es heißt, er dachte an den Fisch und an dessen Würde in diesen letzten Augenblicken. Das ist für mich charakteristisch für den Text, dass der Begriff der Würde einfach fallengelassen wird und völlig verstörend nachhallt.“ Denn man würde die problematische Einwilligung in das Opfer-Dasein nicht automatisch mit Würde assoziieren. „All diese Konnotationen, all diese Begrifflichkeiten werden in Frage gestellt, und zwar nicht explizit. Das macht für mich die eminente Literarizität dieses Textes aus.“

Insa Wilke, Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler
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Insa Wilke, Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler

Insa Wilke sagte, es gehe auch um den Wunsch, „aus sich herauszutreten“. Ein Satz sei besonders zentral, nämlich „dieser jemand ist eine Person und dann ist er sie nicht mehr. Das erträgt kein Wunsch.“ Dieser Satz sei in beide Richtungen lesbar, in die Person des Täters und auch des Opfers. „Was wäre, wenn wir der Behinderung dieser Person folgen würden? Und wenn wir das großartige daran sehen könnten – nämlich wie wäre es, wenn wir uns jeden Tag begegnen und uns jeden Tag neu kennenlernen würden. Das ist das utopische Moment und der Ausweg aus dem Szenario.“

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Kastberger: „Text absolut radikal“

Klaus Kastberger verwies noch auf „die absolute Radikalität dieses Textes“. Diese sei bereits zu Beginn erkennbar – wo es heiße: „Man muss ihn prügeln, um alles Warme aus ihm herauszubekommen und um in seine Mitte zu kommen“. Die Gewalt diene der Wahrheitsfindung. Das sei ein ungeheuerlicher Gedanke, den man sich erst vorstellen müsse und „dass er in gewissen Gesellschaftsgebieten seine Einsatzgebiete hat – und unglaublich erfolgreich ist.“ Man sei bereits im ersten Satz da drinnen und komme als Leser nicht mehr heraus.

Thomas Strässle fügte an, dass „Gewalt auch ein Mittel der Integration und der Anerkennung sein“ könne – „als letzte Konsequenz“.

Brigitte Schwens-Harrant meinte abschließend, dass „wir über den Text noch gut zwei Stunden reden könnten.“ Sie wollte noch die Frage aufgreifen, dass nicht klar sei, wer die drei Schläger seien. „Das passt zum Anfangssatz. Der Text beginnt mit Man – und das Man ist ja schon ein ganz brutales Wort – und das Man ist ja etwas ganz unpersönliches. In Wirklichkeit sind die drei möglicherweise auch austauschbar. Wenn die drei nicht da sind, sind andere drei da.“