Sophie Klieeisen Lesung
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Jurydiskussion Sophie Klieeisen, D

Sophie Klieeisen liest auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Taube Früchte" über einen Empfang zur Einweihung des Humboldtforums in Berlin. Auf drei Ebenen wird die deutsche Geschichte aus Sicht eines Journalisten beleuchtet.

Der Ich-Erzähler ist Journalist und berichtet von der Einweihung des wieder aufgebauten Berliner Schlosses, das den von der DDR gebauten Palast der Republik ersetzt. Darin untergebracht ist das Humboldtforum mit einem Universalmuseum. Im Foyer trifft der Erzähler Grabowski. Spezialist für preußische Kulturgeschichte, Vorsitzender Sachverständiger der Historikerkommission ›Berlins Historische Mitte‹ im Deutschen Bundestag, Beirat der gleichnamigen Stadtkommission und des gleichnamigen Ausschusses im Abgeordnetenhaus, Ehrenmitglied im Freundeskreis des Kuppelbaus.

Thomas Strässle eröffnete die erste Jurydiskussion: "Das ist ein Text, mit dem ich mich gut identifizieren kann.“ Es sei ein Text, der den Literaturbegriff des Ingeborg-Bachmann-Preises etwas ausweite. „Was ich sehr sympathisch finde und auch sehr begrüßenswert, das Reportagenhafte.“ Eine Schwäche habe er aber ausgemacht: Es gebe einige Figuren, die weniger agieren, vielmehr dozieren. „Dieser Grabowski erklärt sehr viel, aber das auch nur vorübergehend.

Insa Wilke, Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant
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Thomas Strässle mit Insa Wilke (links) und Brigitte Schwens-Harrant

Es sei eine Satire auf aktuelle Anlässe. Wer da um wen herumschleiche, wo Spiele um Anerkennung stattfinden. Es gebe sehr gute einzelne Beobachtungen darin. Zum Beispiel die weißen Turnschuhe. „Das ist so Business-casual, etwa bei der Fifa laufen alle mit dunkelblauen Anzügen und weißen Turnschuhen herum. Infantino habe ich nie anders gesehen. Das sind sehr gute einzelne satirische Beobachtungen, die dem Text das Salz geben“, so Strässle.

Delius sieht keine Reportage

Mara Delius sagte, man könne an dem Text „durchaus ein paar Dinge aussetzen vielleicht, aber ich finde es bewundernswert, wie der Text es schaff, in kurzer erzählerischer Form kurze Bilder einzubauen.“ Allein der Ausdruck ‚geschichtsloses Wetter‘ sage für sie extrem viel. Sie würde jedoch den Text ganz klar von einer Reportage wegziehen, sagte Delius in Richtung Thomas Strässle.

Sanyal: „Wo geht der Text hin?“

Mithu Sanyal fand, es sei ein sehr erzählerischer Text, er erzähle aber keine Geschichte. „Das ist das Interessante daran“. Er arbeite mit Distanz und das sei „literarisch sehr beeindruckend“ mit vielen kurzen Sätzen. „Ich bin da sehr mitgegangen, aber es gibt auch eine Ratlosigkeit, denn ich weiß nicht, wo der Text hingeht. Was ich aber sehr gut finde, dass ich irgendwann erfahre, dass der Erzähler männlich ist. Das war eins schöner Kippmoment in dem Text.“ Denn sie habe erst gedacht, dass es sich beim Erzähler um eine weibliche Figur handeln würde.

Klaus Kastberger und Mara Delius
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Klaus Kastberger und Mara Delius

Die weißen Turnschuhe

Brigitte Schwens-Harrant erwähnte zunächst mit einem Lächeln, dass sie auch weiße Turnschuhe tragen würde. Einiges im Text sei ihr thematisch bereits bekannt gewesen. „Man kennt ja diese Eröffnungsfeste. Man kennt auch die Belegschaft, die dann dort hinläuft. Die Leute, denen man begegnen möchte und denen man nicht so gerne begegnen möchte. Das hat natürlich wirklich satirische Züge.“ Sie habe aber auch Fragen an den Text: "Einerseits ist die Gebäudemetapher spannend. Das lässt sich vieles machen daraus. Ein interessanter politischer Blick in die Geschichte eines Landes, der darinsteckt. Ich finde, es wird Vieles angezündet, und das macht mich neugierig. Aber es wird daraus in dem Text für mich nichts gemacht, das finde ich schade.“

Ein weiterer Kritikpunkt: Bei den Dialogen gebe es dazwischen sehr viele Informationen. „Das macht es ein bisschen unlebendig.“ Insgesamt habe sie den Eindruck, dass der Text durch die Andeutungen „an der Oberfläche bleibt", so Schwens-Harrant.

Kastberger sieht zwei Ebenen

Klaus Kastberger sagte, man nehme im Text zwei Ebenen wahr. Zum Einen das Gebäude, das im Zentrum der deutschen Symbolpolitik stehe. Dabei gehe es um eine riesige Debatte. Das sei „hochspannend“. Zum Anderen werde das Gebäude eröffnet. Er habe das Gefühl bei diesem Event „sind die, die wir kennen. Da hätten wir uns gestern auch beim Bürgermeister-Empfang umsehen können. Diese Schicht kennen wir, weil viele von uns dieser Schicht angehören.“ Natürlich mische der Texte Fakten mit Fiktionen. Was spannend und gut erzählerisch gemacht sei: „Diese Schicht der Hochkultur und der Politik führt nach wie vor ein recht gutes Leben, aber irgendwie hams Angst“, so Kastberger. Er würde aber fast sagen, dass alles „auf der Andeutungsebene bleibt. Das gefällt mir eigentlich ganz schlecht.“ Dann das werde nicht aufgeklärt.

Tingler schloss sich Delius an

Philipp Tingler sagte, es sei wenig überraschend, dass er sich der Meinung von Mara Delius anschließe, dass dieser Text „eminent literarisch“ sei. Der Text gehöre einem Genre, das extrem selten sei. Dem Genre der Gesellschaftsprosa. „Es geht nicht um eine Ich-Welt, sondern um Strukturen der Gesellschaft und wie sie in der Dynamik dafür sorgen, dass das Mittelmaß nach oben gespült wird. Das ist das eigentliche Thema dieses Textes.“

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Er habe sich gefragt, ob jemandem auffällt, „dass hier der Teufel auftritt, genauer die Teufelin.“ Dies würde in der Person von Greta passieren. „Es geht hier darum, wie die Gesellschaft gefangen ist in den Pirouetten ihrer Geltungsdiskurse. In dem Spiel von Gehört- und Gesehenwerden. Aufgrund der Schamlosigkeit werden Karrieren umgesetzt." Er finde das „virtuos umgesetzt“ und es sei natürlich die Präsenz von Klaus Mann in dem Text spürbar. Es gehe um ein Panorama, „das entfaltet wird von gesellschaftlicher Notwendigkeit und gesellschaftlichem Versagen. Um die Oberflächlichkeit zu entblößen, braucht es bisweilen auch nicht mehr als den oberflächlichen Dialog. Er muss einfach treffend sein.“

Insa Wilke angetan

Insa Wilke meldete sich dann zu Wort. „Ich möchte den morgendlichen Superlativen einen Dämpfer verpassen.“ Sie habe den Text als eine „Beschreibung bombastischen Aktes der konservativen Identitätspolitik“ gelesen. „All diese Dinge gefallen mir sehr gut, weil ich auch mit Leuten zu tun habe, die unter Identitätspolitik immer nur die Linke verstehen und davon geradezu besessen sind. Es gefällt mir sehr gut, dass die andere Sichtweise auftaucht.“ Sie habe dennoch Schwierigkeiten mit dem Text – aufgrund der kurzen Strecke. „Hier schnurrt es sehr zusammen. Für mich kommt zu wenig an.“ Das wäre auf der langen Ausführung sicher anders.

Philipp Tingler wollte „direkt darauf antworten." Er finde, man könne den Text durchaus universeller lesen. „Der Text kritisiert Identitätspolitik, aber jeder Fasson. Der Text kritisiert das hier eine Gesellschaftspolitik agiert, wo Freiheit als privates Gut, als Möglichkeit der eigenen Karrieregestaltung in erster Linie gesehen wird. Das entsteht aus der Dynamik der Gesellschaft. Das ist an Links wie Rechts. Die Fragen sind auf beiden Seiten identisch. Die Fragen gehen darum, den Weg zu ebnen.“

Winke warf ein, dass sie jedoch glaube, „dass der Text sehr voraussetzungsreich ist.“ Sie frage sich, ob man den Inhalt in Österreich überhaupt gut versteht und ob es nicht zu kryptisch sei.

"Wir verstehen den Text

Klaus Kastberger meldete sich zu Wort: „Ich kann sie beruhigen, wir begreifen und wir verstehen den Text. Wir sind in Österreich Experten für den Teufel. In Salzburg wird seit 100 Jahren das Spiel des Sterbens vom reichen Mann aufgeführt. Das passiert genau das, was hier passiert. Der Tod kommt in die Gesellschaft, die reich sind. Jahr für Jahr kommt das deutsche Großkapital an, weil man offensichtlich hier etwas lernen kann.“ Applaus im Publikum.

Kastberger fuhr fort: „In Österreich interessiert es keinen Menschen mehr, wir haben mit dem Teufel abgeschlossen, aber wir spielen das, weil es halt so gut funktioniert.“ Der Teufel im Text sei jedenfalls ein „seltsamer Teufel, der Greta heißt“.

Mithu Sanyal wollte noch einmal zur Form zurückkommen. „Der Text macht ein großes Panorama auf, in dem sich noch nicht viel bewegt hat. Natürlich bewerte ich Texte aufgrund dessen, was hier liegt.“ Sie sei jedenfalls gespannt, was hier passiert. „Wird es neben der Kälte in dem Text auch eine Wärme geben.“

Klaus Kastberger wollte noch eine „Kleinigkeit“ in Richtung von Philipp Tingler anmerken. Er sei in dem Text keinen Hinweis darauf, dass die Falschen an der Macht seien und die Falschen nach oben gespült würden. Philipp Tingler antwortete, er habe nicht gesagt „die Falschen, sondern das Mittelmaß.“ Es sei eine ganze Substruktur erkennbar, „die ich Ihnen in den nächsten 90 Minuten gerne darlegen könnte“, so Tingler in Richtung von Kastberger.

Wilke fehlte eine Bruchstelle

Das Schlusswort gehörte Insa Wilke: „Mir hat ein bisschen eine Bruchstelle gefehlt.“ Beim stillen Lesen habe sie geglaubt, diese gefunden zu haben. Doch beim Vortrag der Autorin habe sie diese Bruchstelle nicht erkennen können.

Moderator Peter Fässlacher entschuldigte sich in seiner Kurzzusammenfassung für seine weißen Turnschuhe, „die ich morgen übrigens wieder tragen werde.“