TDDL 2020 Das leere Studio
ORF/Johannes Puch
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Erste Favoriten am zweiten Tag

Freitag, der zweite Lesetag im Rahmen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur, wurde von vier deutschen Autorinnen und Autoren und einem Österreicher bestritten. Die Jury war von einigen Texten angetan, die Diskussionen waren weniger scharf als am ersten Tag.

Überwiegend Lob gab es für die Texte von Helga Schubert, Hanna Herbst, teilweise auch für Egon Christian Leitner und Levin Westermann. Hier kam die Jury immer wieder auf die Metaebene – wie sei Literatur zu bewerten, nach welchen Kriterien gehe man bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur vor. Treibende Kraft war hier Neo-Juror Philipp Tingler, der sich fixe Kriterien wünschte.

Nach 40 Jahren wieder bei Lesenden

Helga Schubert war die erste Autorin des zweiten Tages und mit 80 Jahren die bisher älteste Teilnehmerin am Bachmannpreis. Sie sollte bereits 1980 in Klagenfurt lesen, durfte damals aber aus der DDR nicht ausreisen.

Sie saß dann von 1987 bis 1990 in der Jury und startete in diesem Jahr einen neuen Anlauf als Autorin – mehr dazu in Helga Schubert. Sie las den Text „Vom Aufstehen“ auf Einladung von Insa Wilke. Der autobiografisch Text kam bei der Jury gut an, sie fühlte sich „berührt“.

Helga Schubert
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Helga Schubert liest im Garten

Hubert Winkels bedankte sich für den „schönen Text“. Er erinnerte sich an die vier Juryjahre von Helga Schubert. „Ich weiß, dass wir Zuhörer skeptisch waren, sprechen die für ihren Staat, ist das was Stasihaftes dabei. Im Nachhinein ungute Abgrenzungen“, so Winkels. Das Verhältnis zur Mutter sei entscheidend, denn die Mutter sei erst vier Jahre zuvor gestorben. „Sie tun das, was Ihre Mutter gewünscht hat und beschreiben die Mutter mit großer Nachsicht, obwohl die Mutter grausam ist.“ Sie mache ein „großes Verzeihen in knappen Sätzen“ daraus, zollte Winkels Anerkennung. Das sei ein grundchristliches Motiv, das Verzeihen. „Damit gibt es etwas Heiles in der Welt.“

TDDL 2020: ORF Übertragungswagen von außen
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Die Technik kommt aus den ORF-Übertragungswagen

Philipp Tingler sagte, seit heute liebe er Helga Schubert. „Ich möchte erwähnen, dass mir der Porträtfilm gut gefallen hat, dass man auf interessante Art eine Autorin ihr Schaffen erzählt.“ Der Text gefalle ihm, der Rahmen sei gelungen, der Zustand des Aufstehens, der ja auch ein Bewusstseinszustand sei. „Mir gefällt das Programm, etwas zu schreiben, damit es jemand weiß.“

Kastberger und Vogelgezwitscher

Klaus Kastberger sagte: "Ich fand die Art und Weise, wie der Test vorgetragen wurde, sehr angenehm und befreiend. Ich halte es nicht aus, wenn Autorinnen und Autoren ihre Texte in langsamer getragener Weise vortragen. Das Vogelgezwitscher im Hintergrund hat sich gut gemacht.“

Brigitte Schwens-Harrant meinte, es sei schön gewesen, zuzuhören. „Das Erzählen des Lebens ist auch eine Kunst.“ Der Text beginne am Anfang des Tages handle aber auch vom Ende des Lebens. Die Autorin habe ein enges formales Korsett gewählt, um den Tagesanfang zu wählen und die Revue des Lebens einzubauen. Zwei Frauenleben werden mit politischen Umständen verknüpft. Es entwickelte sich eine Diskussion, angestoßen von Philipp Tingler, darüber, dass man auch biografische Texte nach ihrem Handwerk beurteilen müsse und nicht nach ihrer Wirkung.

Hanna Herbst
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Hanna Herbst

Offene Fragen beim Text von Hanna Herbst

Auf sie folgte die deutsch-österreichische Journalistin und Autorin Hanna Herbst, die seit Juni 2020 auch als Chefin vom Dienst verantwortlich ist für die journalistischen Inhalte in Jan Böhmermanns neuer Sendung – mehr dazu in Hanna Herbst. Sie las den Text „Es wird einmal“ und wurde eingeladen von Insa Wilke.

Lesung Hanna Herbst
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Die Lesung von Hanna Herbst

Grundsätzlich diskutierte die Jury, ob der Text die Jury bzw. die Leser nicht vorführen wolle, ob er ein Experiment der Autorin sei. Diese Frage konnte ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage nach dem Verhältnis der beiden Hauptfiguren. Vater und Tochter, oder Freund und Freundin, oder Künstler und Interviewerin.

Kein Beweis für Vater/Tochter

Hubert Winkels sagte zu Beginn, er habe den Text gerne gelesen und gerne zugehört. Es sei die Erinnerungsreise einer Tochter. Er schätze die Art, wie sie sich dem Vater über die Erzählform annähere. Im ersten Teil gebe es Episoden, Erinnerungen an von anderen Personen Erzähltes. Zwischendurch Einschübe der Gegenwart. Eigentlich sei es ein distanziertes Spiel mit der Zeit, das Vergehen, die Sterblichkeit mit Bewegung in die Zukunft.

Klaus Kastberger fragte Winkels, „woher nimmst Du die Sicherheit, dass es ein Vater ist? Das habe ich nicht herausgelesen.“ Winkels meinte, die Frage sei gut. Er habe das als selbstverständlich getroffen, weil die Figur eine lange Geschichte hat.

Geschenk oder Experiment

Insa Wilka meinte, die Texte von Helga Schubert und Hanna Herbst seien Geschenke, die sie dem Publikum weitergeben wollte. Philipp Tingler sagte, er sei nicht sicher, ob Hanna Herbst nicht ein Experiment mit allen mache. Die Autorin sei sehr amüsiert, wenn das wirklich so sei.

Christian Anchowitsch im Studio
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Studio mit Juroren

Michael Wiederstein sagte es sei ein großes Talent der Autorin, phantastische Bilder zu zeichnen. Die Idee mit dem Experiment könne er sich auch vorstellen. Am Beginn habe er sich gefragt, warum der oder die Erzähler/in wie Yoda aus Starwars mit seltsamen Satzverdrehungen sprechen müsse.

Brigitte Schwens-Harran fing noch einmal am Anfang an, wo es ums Erzählen gehe. Die beiden reden nicht übereinander, sondern nur über andere, es gebe auch skurrile Episoden. Durch Satzbau und Wiederholungen werde der Tod verschoben, wie bei Scheherazade. „Ich finde, das hält der Text aber nicht durch“.

Hanna Herbst war schnell damit, die Frage, ob der Text ein Experiment sei, zu beantworten. Noch am Freitagabend produzierte sie ein neues Gesangsvideo:

Kontroverse über Text von Egon Christian Leitner

Nach Hanna Herbst folgte der österreichische Autor Egon Christian Leitner auf Einladung von Klaus Kastberger – mehr dazu in Egon Christian Leitner. Sein Text trägt den Titel „Immer im Krieg“

Lesung Egon Christian Leitner
WDW Film
Lesung Leitner

Insa Wilke sah Gesellschaftskritik mit Geschichten in einem Eulenspiegelton. Eine zentrale Stelle sei für sie der Satz „Gegen Menschen, die eine absolute Entschlossenheit haben, kommt man nicht an“. Man wolle helfen, aber das gehe nach hinten los. Die Motive des Helfens werden hinterfragt.

Philipp Tingler in Richtung Wilke: „Ich bin schockiert, ambivalent oder komplex ist dieser Text nicht“. Er sei hermetisch, ein kleines Weltbild werde präsentiert. Es sei eine Weltdeutung, die unfreiwillig das Problem widerspiegelt, dass es kategorische Positionen gebe – es sie klar, wo die Bösen oder Guten sitzen. „Diese Diskussion sollten wir hinter uns haben.“ Er sehe keine Bereitschaft zum Dialog in diesem Text, er arbeite mit verstaubten Klischees.

Michael Wiederstein und Egon Christian Leitner
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Juror Michael Wiederstein und Egon Christian Leitner

„Umstrittenes Projekt Sozialstaat“

Michael Wiederstein sagte, er finde gut, dass die ersten Wortmeldungen auseinander gehen, er könne beide verstehen. Der Sozialstaat sei das umstrittenste Projekt der Gesellschaft. „Ich habe immer Angst vor dieser Art Gewerkschaftsprosa“, das sei hier aber nicht der Fall. Der Text öffne Perspektiven von Menschen, die im Sozialstaat kämpfen.

Brigitte Schwens-Harrant sagte, man habe in der Jury unterschiedliche Zugänge zu Literatur und sie verwahre sich dagegen, in eine Gruppe verortet zu werden. Die Stereotypen mit Gut und Böse habe sie in anderen Texten gesehen. Sie habe mehr Fragen als Antworten zu diesem Text.

Kastberger wollte radikalen Text einladen

Klaus Kastberger, der den Text eingeladen hatte, sagte, er habe der Welt nichts Schönes schenken wollen, sondern einen radikalen Text einladen. Er sei erstaunt über die Reaktionen. Hinter dem Text stehe ein Gesamtwerk. Er sei radikal, weil er auf heutige soziale Wirklichkeiten hinweise. „Er hat eine absolute Entschlossenheit, was in unserer Welt in sozialer Hinsicht los ist.“ Hier habe er eine christliche Technik, ecce homo. „So, die magersüchtige Frau ist verhungert“, er zwinge dazu, hinzuschauen. Auch heute seien Menschen statistisch erfasst, alles ist ausrechenbar. Deswegen gebe es diese Zahlenelemente. „Wir sind berechenbar und so wird mit uns umgegangen.“

Matthias Senkel
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Matthias Senkel

Senkeltext führte wieder auf Metaebene

Nach einer kurzen Mittagspause las der Deutsche Matthias Senkel. Auch für ihn ist es nicht der erste Auftritt beim Bachmannpreis, er war schon 2012 als Lesender mit dabei – mehr dazu in Matthias Senkel. Eingeladen wurde der Text „Warenz“ von Hubert Winkels. Sein Text, der aus einer Collage von verschiedenen Elementen, teilweise erfunden, teilweise echt, besteht, führte wieder einmal zu einer Diskussion in der Jury, nach welchen Kriterien man Texte bewerten sollte. Philipp Tingler forderte fixe Kriterien, während Insa Wilke meinte, diese ändern sich mit den Texten, sie sei da flexibel.

TDDL 2020: Lesung Matthias Senkel
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Matthias Senkel

Insa Wilke fand, des sei „ein ausgesprochen gewitzter Text“. „Der ganze Text ist für mich ein Taschenspielertrick, auch um die Frage, wie Geschichte entsteht.“ Philipp Tingler meinte, er sei passagenweise fast ins Koma gefallen. „Für mich ist dieser Text einfach lahm, er fällt irgendwann auch ins Koma.“ Es sei aber egal, wie Vieles im Text egal sei. Er habe sich gefragt, was schiefgelaufen sei. Gerade die Collagetechnik arbeite mit Plotbrocken und Handlungsfetzen, es fehle das, was die Leistung des Autors ausmachen solle, das Ganze zu einem ästhetischen Ganzen zu binden.

„Googeln ist schlecht“

Klaus Kastberger habe sich ähnliche Fragen gestellt. Die Montagetechnik gebe es lange, sie sei ein Mittel der Moderne. Aber während des Textes habe er sich gefragt, wo das Gravitationszentrum sei. Es könnte so etwas wie Heimatkunde in Mecklenburg-Vorpommern sein. Auch er habe ständig gegoogelt, das sei schlecht. Er wurde am liebsten selbst nach Mecklenburg-Vorpommern fahren und sich das anschauen, so Kastberger.

Während Michael Wiederstein von einer literarischen Schatzsuche sah und den Vortrag des Autors lobte, meinte Brigitte Schwens-Harrant, Senkel hätte alles gleich gelesen. Winkels verteidigte seinen Autor und meinte, es gehe ja gerade darum, dass der Text keine Fahrt aufnehme. Dies fand wiederum Philipp Tingler „kurios“.

Viel Diskussion um Westermann-Text

Den zweiten Lesetag beschließt der Deutsche Levin Westermann, der in der Schweiz lebt. Er wurde ebenfalls eingeladen von Hubert Winkels.

Levin Westermann
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Levin Westermann

Die Diskussion war kontrovers, nicht alle Juroren konnten mit Text und Vortragsweise etwas anfangen. Philipp Tingler meinte, er habe das Gefühl in einem grotesken Sketch gefangen zu sein. Er erwarte von Literatur eine nicht Verschlichtung der Welt, sondern eine Öffnung. Das Ich bediene alle Stereotype und Klischees.

Kastberger sagte, er möge den Text. Unter den vielen, die Hubert Winkels in den letzten Jahren nominiert habe, sei dieser der, den er am meisten möge. Insa Wilke sagte, sie könne direkt an Kastberger anschließen, sie sei seiner Meinung. Das „und“ verbinde immer zwei Dinge, die Welt erweitere sich.

Schwens-Harrant: Schöner letzter Text

Brigitte Schwens-Harrant fand den Vortrag gut gelungen. Das Litaneiartige sei deutlich geworden, das rhythmische Wiederholen. „Es ist erfreulich, dass wir mit diesem Text den Tag beenden, denn es ist ja ein Text über die Bedeutung von Literatur.“ Er mache eine Prosa, die Lyrik sei. Es bleibe die Frage, kann man das machen.

Michael Wiederstein sagte in Richtung Tingler, er sei nicht alleine, auch er könne damit nichts anfangen. Der Lauf der Welt sei das Thema, ein Bildungsbürger breite seinen Kanon aus.

Autoren können mitdiskutieren

Die siebenköpfige Jury unter Vorsitz von Hubert Winkels diskutiert im Anschluss an jede Lesung live. Ihre Mitglieder sind neben Winkels Nora Gomringer, Klaus Kastberger, Insa Wilke, Michael Wiederstein und die beiden Neuzugänge Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler.

Letzterer führte mit seinen Aussagen am ersten Lesetag gleich eine zu einer neuen Front in der Jury, die noch viel Unterhaltungswert verspricht. Die Autoren sind dabei zugeschaltet und können sich an der Diskussion beteiligen.

Rückblick: Der erste Lesetag

Den Auftakt am ersten Tag machten machte die Hamburger Autorin Jasmin Ramadan, Lisa Krusche und Leonhard Hieronymi. Den ersten Lesenachmittag bestritten die beiden Österreicher Carolina Schutti und Jörg Piringer.

Heinz Sichrowsky und Julya Rabinowich
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Julya Rabinowich und Heinz Sichrovsky im Garten

Autoren und Juroren nehmen virtuell teil

Das ORF-Theater, wie auch der Funkhausgarten, müssen in diesem Jahr leer bleiben. Das Publikum darf coronavirusbedingt ja nicht bei der Sonderausgabe dabei sein. Somit gibt es auch keinen Applaus, eine ungewohnte Situation für alle Beteiligten. Als Ausweiche im kleinen Rahmen dient die Public Viewing-Zone im Lendhafen, unweit des ORF Theaters.

TDDL 2020 Public Viewing Lendhafen
ORF/Johannes Puch
Public Viewing im Lendhafen

Die Lesungen der 14 Autorinnen und Autoren wurden bereits vor Tagen aufgenommen und werden zu den festgelegten Zeiten eingespielt. Die Jury-Diskussionen finden daran anschließend jeweils live statt, allerdings nicht im ORF-Theater in Klagenfurt, sondern per Liveschaltung aus Berlin, Zürich, Wien, Graz und Bamberg. 3sat überträgt wie jedes Jahr die Lesungen und Diskussionen sowie die Preisverleihung live. Der Bewerb wird auch im Internet gestreamt.