Erster Lesetag zeigte kampflustige Jury

Am Donnerstag begannen die Lesungen mit den ersten fünf Autorinnen und Autoren. Die Jury diskutierte teils sehr angriffslustig von Beginn an. Im Zentrum der Kontroversen Neo-Juror Philipp Tingler. Ein Favorit zeichnete sich nicht ab.

Um 10.00 Uhr las als erste die deutsche Autorin Jasmin Ramadan. Sie wurde eingeladen von Neo-Juror Philipp Tingler und las den Text „Ü“ über einen Mann, der Frauen schlecht behandelt, damit sie ihn verlassen. Der erste Text des Tages führte gleich zu einer heftigen Diskussion in der Jury. Denn wer den Klagenfurter Wettbewerb kennt, weiß, dass es gleich richtig zur Sache geht: Entweder werden erste Allianzen geschmiedet oder werden Brücken hochgezogen. Und so war es dann auch. Philipp Tingler war in Verteidigungshaltung, der Rest der Jury voll auf Angriff getrimmt.

  Jasmin Ramadan
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Lesung Jasmin Ramadan

Tingler machte den Anfang mit einer Bemerkung über das digitale Setting: Am Monitor sehe man auf einen Blick alle Juroren und ihre Reaktionen, das finde er „sehr interessant“. Der erste Platz sei ein undankbarer Platz, sagen manche, doch es war ein „famoser Beitrag“. „Ich kriege sehr oft Manuskripte mit dem Hinweis, das sei die Stimme einer Generation, das ist aber selten der Fall. Hier finde ich, dass er mentale Zustand einer bestimmten Kohorte beschriebe wird. Das sind Menschen, die analog sozialisiert sind und zwischen Selbstdarstellung und dumpfer Wut stecken bleiben.“ Die Konstruktion finde er „großartig“, es sei ein Ballett, das den Geist der Zeit zeige.

Das Studio mit Moderator Christian Ankowitsch
ORF/Johannes Puch
Studio mit Juroren

„Übersichtlicher Text“

Insa Wilke sagte, sie habe den Text zuerst als Psychogramm einer Generation gelesen, aber dann festgestellt, der Text sei übersichtlich, weil er ein übersichtliches Leben beschreibe.

Klaus Kastberger antwortete, er sehe verschiedene Konstellationen. Wenn man sage, sie sei einfach, müsse man berücksichtigen, dass es nicht nur um eine Konstellation gehe. „Was ist einfach daran?“ Er habe das Ü anders gelesen, bei Ü denke man an Überraschungseier in Österreich, das sei seine Assoziation gewesen. „Ich fand auch interessant, wie beide Geschichten aufeinander bezogen sind, ich finde es aber nicht großartig, wie das passiert ist. Ich finde das teilweise simpel und mechanistisch.“

Moderator Michael Wiederstein
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Juror Michael Wiederstein

„Funktioniert nicht auf Kurzstrecke“

Philipp Tingler konterte, das Leben sei manchmal simpel. Kastberger sagte, der Text sei simpel, wie er das komplexe Leben darstelle. „Ich habe ein anderes Problem mit dem Text, in seiner Langsamkeit passt er in die Romanform. Der Rahmen einer 30-Minuten-Lesung ist er zu klein, mir geht das zu langsam, er hätte mehr Speed gebraucht.“ Für Hubert Winkels war „das alles wenig durchdacht“. Man erfahre im ersten Teil die Perspektive von Ben, der sich selbst beschreibe. Man lese die ganze Zeit Aussagen von Ben über sich selber, die aber eine Selbstvernichtung seien. „Der Text ist grotesk falsch, das liegt an der Konstruktion.“

Wiederstein meinte, er glaube auch, dass die Montage, die Tingler so schön finde, auf der Kurzstrecke nicht funktioniere. Wenn man einen 900-Seiten-Roman daraus mache, funktioniere das.

Lisa Krusche auf Startplatz zwei

Nach ihr folgte Lisa Krusche aus Deutschland, eingeladen von Klaus Kastberger. Sie las den Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ über eine dystopische Welt nach einer großen Katastrophe und eine Computerwelt voller Avatare und Bots.

LIsa Krusche
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Lisa Krusche

Ihr Text wurde von der Jury teilweise sehr gelobt, Philipp Tingler zeigte sich uninteressiert und unterbrach immer wieder seine Jurykollegen. Insa Wilke zeigte sich vom Mut des Textes beeindruckt. Das Pathos werde durch die Figur der Judith gebrochen. Es gehe darum, Ursprungsdenken zu verneinen und eine Daseinsform in andere Weise vorzustellen, unter anderem durch Symbiose und Verwandlungen. „Krusche nimmt die Fäden auf und verwandelt sie.“

„Frage mich, ob das ausreicht“

Winkels schloss sich an und verwies auf die Richtigkeit von Wilkes Referenzen auf die Mythologie. Anders wäre der Text nicht zu lesen, der Text greift in die Fülle von Transspezies. Man könne es auch nach den „Phantastischen Tierwesen“ lesen nach J.K. Rowlings. Das Besondere sei, die Mythologie werde auf Computerspielwelten übertragen, mit den Avataren und Bots wiederholt sich das Spiel der Verwandlung, der Symbiose. „Ich frage, ob das ausreicht“.

Lesung Lisa Krusche
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Lesung Lisa Krusche

Philipp Tingler sagte, er wolle hier anknüpfen. Es stelle kein Kompliment an einen Text dar, wenn man sage, er wäre ohne Referenten nicht zu lesen. Text sei ein Missverhältnis von Substanz und Präsentation. Er sehe oberflächliche Bilder, die Ästhetik des Konsums. „Worum geht es hier eigentlich in zwei Sätzen?“

„Was sind die Gründe für den Aufbruch in eine Revolution“, antwortete ihm Winkels.

Moderator Ankowitsch mit Juroren
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Jury

Verweis auf „the last of us“

Michael Wiederstein sagte, diese Judith sei offensichtlich die einzige Überlebende einer großen Katastrophe. Sie tut zwar so, als ob sie sich verstecken müsste, aber es seien nur Drohnen da. Auch er sah einen Verweis auf die Computerspielwelt – „Ich glaube, das Vorbild des Settings ist das PC-Spiel ‚the last of us‘. Bilder kommen direkt aus diesem Spiel, wie das dunkle Hochhaus. Es sei „verdammt schwierig“, ein Computerspiel zu erklären, hier verzettle sich der Text

Brigtte Schwens-Harrant sagte, der Text sei sehr sehr gut gearbeitet. Natur und Postzivilisation vermischen sich, das ist „sehr gut gemacht“. Der Bild auf die erste Seite belegt, dass gründlich gearbeitet werde. Tingler sprach dazwischen, es gebe ein Missverhältnis und er sehe Kitsch.

Kastberger: Schweizer verstehen das nicht

Klaus Kastberger sagte zu dem Text, der von ihm eingeladen wurde, in den letzten Jahren hätte es beim Bachmannpreis gar nicht so wenige Texte über dystopische Welten gegeben, in denen Menschen und Pflanzen verschmolzen. „Immer waren es Juroren aus der Schweiz, die diese Welten nicht verstanden haben.“ Tingler warf ein „es interessiert mich nicht“, es sei ein uninteressanter Text.

Kastberger sagte, er versuche, ihm den Text zu erklären, auch wenn Tingler das nicht zur Kenntnis nehmen wolle. „Warum fordert man von Texten immer Handlungen?“. Kastberger wurde nach einer erneuten Unterbrechung Tinglers laut und wirkte genervt. „Was für mich diesen speziellen Text im Vergleich mit anderen dystopischen Zukunftswelten ausmacht, ist die politische Dimension, die er erst nach dem zweiten oder dritten Mal lesen erkannt habe. Der Text bebildere mit der Welt der Biologin Donna Haraway.

Leonhard Hieronymi beschließt Vormittag

Der Deutsche Leonhard Hieronymi las auf Einladung von Michael Wiederstein nach ihr und beschließt den ersten Lesevormittag mit dem Text „Über uns, Luzifer“. Der Text über drei rich kids auf den Spuren von Ovid stieß bei der Jury auf wenig Gnade. Positiv war Insa Wilke. Sie sagte, er arbeite mit einer konservativen Ästhetik, die Ablehnung der Moderne, das Spüren statt Verstehen. Das Spüren funktioniere ganz gut, weil die leeren Zeichen ein Gefühl des Unheimlichen hervorrufen.

Leonhard Hieronymi
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Leonhard Hieronymi

Philipp Tingler sagte, gebe Insa Wilke in vielem Recht, nicht in allem. Im Text gebe es keine Ironie. Hubert Winkels meinte, Ironie habe er nicht, aber er habe eine Energie der Verwerfungen. Es gehe offenbar um die Idee von Europa und behauptete Größe. Das könne man nur ahnen. Das Verworfene sei eine Form der Wahrnehmung, es gebe keine Reise in die Geschichte. Es gebe nur Ruinen, er verstehe nicht, warum diese Reise zu den Gräbern interessant sei. Er erkenne keinen Erkenntniswillen im Text.

Regie im Übertragungswagen
ORF/Johannes Puch
Regie im Übertragunswagen

Kritik an der Form

Laut Kastberger hält der Text den Ton nicht durch, er stimme Tingler zu. Das Manifest der Ultraromantik finde er als Basis schon ganz gut, er sehe den Text auch nicht als ganz ironiefrei. Michael Wiederstein wollte drei Schritte zurück gehen. Über die Form sei gar nicht geredet worden. Die literarische Reisereportage suggeriere, das habe so stattgefunden. Der Ich-Erzähler soll für realen Hintergrund sorgen, doch das sei nicht der Fall. Sie sitzen vor einem KFC in einer Mall und reden über Europa, das sei absurd. Brigitte Schwens-Harrant meinte, handwerklich sei nicht alles in Ordnung.

Lesung Carolina Schutti
WDW Film
Carolina Schutti

Österreicher am Nachmittag

Nach einer Pause folgen die Österreicherin Carolina Schuttium 13.30 Uhr, eingeladen von Neo-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant. Sie liest den Text „Nadjeschda“. Der Text führte dazu, dass die Jury die Diskussionsebene verließ und auf eine persönliche Metaebene wechselte. Moderator Ankowitsch griff ein und erklärte, solcher Schlagabtausch sei in diesem Setting mit Vidiwalls für die Zuschauer schwer mitzuverfolgen.

Hubert Winkels machte den Anfang. Er habe dem Text gerne zugehört, es sei anders zugehört als gelesen. Etwas von der Ich-Perspektive, in der verschiedene Welten zusammenfließen habe sich in der Art des Vortrags niedergeschlagen, das habe er als angenehm empfunden. Ganz am Anfang des Bachmannpreises gab es den Psychiatrietext, der aus der Mode kam. Die Perspektive eines Ausgeschlossenen, dessen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen man folge.

Wilke: Machtvoller Text

Insa Wilke sagte am Anfang des Textes habe sie an einen Systemsprenger gedacht, aber dieses Kind werde einem nur von außen gezeigt. Es habe keine Sprache für sein Inneres. „Beim Fass habe ich an Diogenes gedacht, es gibt viele solcher Symbole im Text. Die Axt, die Scherbe etc.“ Sie finde den Text als machtvoll.

Klaus Kastberger sagte, er fürchte, er sei der falsche Leser oder er könne damit nichts anfangen. „Ich werde nervös, wenn ich den Text lese und noch nervöser, wenn er in dieser Langsamkeit vorgelesen werde. Muss jeder Blutstropfen gezählt werden.“ Die forcierte Reihenfolge der Dinge sei ihm zu langsam. „Ich weiß nicht, was das Problem dieser Frau ist.

Belehrung in Richtung Tingler

Tingler stimmte – wieder – Klaus Kastberger. „Ich kann damit ebenfalls nichts anfangen.“ Es sei ein veraltetes akademisches Literaturmodell mit typischen Zutaten. Für ihn sei es eine abgeschottete Prosa, wo er sich frage, was sei das Problem. Wiederstein sagte, das Problem werde doch mehrfach benannt. Jemand finde die Sprache nicht. Dass Klaus Kastberger durch das Mäandern nervös werde, das seien Sprachspiele, die in der Person stattfinden. Die Bilder, die von außen kommen, die Metaphern, bedeuten, dass man mit sich nicht fertig werde. „Wer keine Sprache findet, schlägt um sich“.

Gomringer: Anstrengende Geschichte

Nora Gomringer sagte, Überlebungskünstler sei eines der wichtigsten Vokabel im Text. Die Strategie einer Überlebungskünstlerperson werde geschildert. „Es ist ein Zurücknehmen, er kann noch nicht sprechen.“ Es gehe um einen Klinikalltag und sich da selbst zu spüren. Sie habe nicht verstanden was das in der Kindheit passiert sei mit dem Vater, so Gomringer. Die Geschichte fand sie „sehr anstrengend“ und sie sei „ratlos“, aber dankbar für den Vortrag.

Insa Wilke fühlte sich erinnert an Christine Lavant „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, den sie Philipp Tingler empfehle. Beeindruckt sei sie von der Sprache, die Schutti für Gefühlserfahrungen gefunden habe. Tingler sagte, wie schön, dass er dran sei und nicht ins Wort fallen müsse. „Wollt Ihr nicht merken, dass das ein total konventionelles Textmodell ist“, frage er die Jurykollegen. Er sei alarmiert, wenn die Kritik abstrakt werde. Offenbar treffe der Text auf Ohren, die Kunst erwarten. Man nehme aber auf die Sprachebene und die Klischees gar keinen Bezug. Dies führte zu einer Kontroverse, die Ankowitsch beendete.

Lesung Jörg Piringer
WDW Film
Jörg Piringer

Maschinentexst von Jörg Piringer

Als letzter Autor des ersten Lesetages war Jörg Piringer an der Reihe, ebenfalls Österreicher. Er wurde eingeladen von Nora Gomringer. Die Jury war sich nicht einig, ob es sich um einen Monolog eines frustrierten Internetentwicklers handelt oder um einen von einer Maschine erstellen Text, in dem es um die Kreativität der künstlichen Intelligenz gehe.

Klaus Kastberger sagte, Piringer stamme aus der Welt des Internets, habe mit Texten gearbeitet, die nichts mit einem Bachmanntext zu tun haben. Gefallen habe ihm die Lesung, der oberlehrerhafte Ton habe ihm aber missfallen. Vielleicht habe der Autor gemeint, er müsse den Kritikern zeigen, was ein maschineller Text sei.

Nora Gomringer, die den Text vorgeschlagen hatte, meinte, der Oberlehrerton erkläre sich vielleicht durch den Monolog, das Lamento eines Webentwicklers und seine Frustration über die Entwicklung des ehemals freien Netzes. Der Webentwickler hat sich zu einer Art Pirat entwickelt und verhalte sich wie ein Robin Hood. Der schwebende Schluss habe ihr gefallen, diesbezüglich habe sie sich mit dem Autor auch ausgetauscht.

Tingler wünschte sich mehr künstliche Intelligenz

Philipp Tingler meinte, bedenklich finde er es, wenn jemand sage, er möge den Verachtungston nicht. Der Text könnte von künstlicher Intelligenz geschrieben sein, er sei etwas enttäuscht, denn man sehe Figuren, die man kenne. Er hätte sich gewünscht, dass er eine Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz und Kreativität leiste. „Relativ gewollt wird die zweite Ebene eingezogen mit der Kampfsportmetaphorik. Das ist so frisch wie die Idee, alles klein zu schreiben.“

Klaus Kastberger sagte, er wehre sich gegen die Lesart, dass man den Text in psychologischen Rahmen stellt. Er stelle sich lieber vor, dass der Text von einer Maschine geschrieben wurde und kein Monolog eines Webentwicklers sei. „Dieser Text funktioniert auch jenseits der Person, die ihn äußert.“

Auslosung durch Moderator

Die Auslosung erfolgte diesmal nicht durch die Autoren selbst, die ja nicht im Studio sein können, sondern durch Moderator Christian Ankowitsch unter der Aufsicht von Justitiar Andreas Sourij.

Auslosung der Lesereihenfolge
ORF/Johannes Puch
Moderator Christian Ankowitsch zog die Lesezeiten anstelle der Autorinnen und Autoren

Streng geheime Videos

Die Lesungen wurden bereits vorab aufgezeichnet und im ORF unter Verschluss gehalten. Denn eine zu frühe Veröffentlichung, auch irrtümlich, würde zu einer Disqualifikation des Teilnehmenden führen. Der Text des jeweiligen Lesenden wird zeitgleich in der Rubrik „Texte“ online gestellt. Nach Abschluss der live Jurydiskussion gibt es davon auch eine Nachlese.

Der Balkon im ORF Garten für die Kommentatoren
ORF/Petra Haas
Im Garten wurde ein Balkon für die Kommentatoren Julya Rabinowich und Heinz Sichrovsky eingerichtet – man hofft auf gutes Wetter.

Autoren und Juroren sind nicht nur via Zuschaltung sondern auch auf social media live dabei.