Matthias Senkel
ZDF/SRF/ORF/3sat
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Jurydiskussion Matthias Senkel

Der Text „Warenz“ des Leipzigers Matthias Senkel, der auf Einladung von Hubert Winkels las, führte – wieder einmal in diesem Bewerb – zur Diskussion über die Kriterien, nach der man Literatur bewerte. Manchen gefiel der Text, manchen nicht, wie Philipp Tingler.

Anhand von Schlagwörtern mit Jahreszahlen und Bucheinträgen erzählt Senkel mit verschiedenen, aneinander gereihten Textfragmenten über die fiktive Insel Warenz in der Ostsee.

Insa Wilke fand, es sei „ein ausgesprochen gewitzter Text“. „Der ganze Text ist für mich ein Taschenspielertrick, auch um die Frage, wie Geschichte entsteht.“ Es fange mit dem magischen Moment an, wo man ein Blatt zerknüllt, wieder glattstreiche und in eine Landschaft eintrete. So könne Literatur funktionieren.

Tingler: Fast ins Koma gefallen

Philipp Tingler sagte, er sei passagenweise fast ins Koma gefallen. „Für mich ist dieser Text einfach lahm, er fällt irgendwann auch ins Koma.“ Es sei aber egal, wie Vieles im Text egal sei. Er habe sich gefragt, was schiefgelaufen sei. Gerade die Collagetechnik arbeite mit Plotbrocken und Handlungsfetzen, es fehle das, was die Leistung des Autors ausmachen solle, das Ganze zu einem ästhetischen Ganzen zu binden.

TDDL 2020: Lesung Matthias Senkel
ORF/Johannes Puch

Kastberger suchte ein Gravitationszentrum

Klaus Kastberger habe sich ähnliche Fragen gestellt. Die Montagetechnik gebe es lange, sie sei ein Mittel der Moderne. Aber während des Textes habe er sich gefragt, wo das Gravitationszentrum sei. Es könnte so etwas wie Heimatkunde in Mecklenburg-Vorpommern sein. Auch er habe gegoogelt, das sei schlecht. Das Schlimme am Text sei, es gebe alles, alles sei mit einer Hypergenauigkeit vorgetragen. Wenn es wenigstens eine erfundene Welt sei.

„Ich habe den Autor bewundert, mit welcher Ernsthaftigkeit er das Kraut und Rüben darlegen konnte.“ Er liebe normalerweise Montagetechniken, hier laufen sie aber ins Leere. Er habe sich als Leser am Leben gehalten, dass es einen Kriminalfall geben könnte, aber der Kommissar müsse verrückt werden. „Das war mir alles zu lange.“ Er wurde am liebsten selbst nach Mecklenburg-Vorpommern fahren und sich das anschauen, so Kastberger.

Hubert Winkels antwortete darauf, man müsse sich fragen, was real sein. Ab wann sei man bereit, Realität zu unterstellen? Es gebe Dinge, die stimmen, und solche, die nicht stimmen. Beide seien stimmig. Auf keinen Fall dürfe passieren, dass die Geschichte Fahrt gewinne. Es sei ein Experiment mit der Literatur.

TDDL 2020 Lesung Matthias Senkel
ORF/Johannes Puch
Matthias Senkel

Wiederstein sieht Schatzsuche

Michael Wiederstein meinte, in jedem normalen Bachmannjahr hätte er gesagt, schauen sie sich nochmal die aufliegenden Texte im Studio an. Er sah eine literarische Schatzsuche, die inhaltlich durch die Collage funktioniert. Auf der Symbolebene habe man auch mit für eine Schatzsuche relevanten Dingen zu tun. Beim ersten Lesen habe er auch nicht mitgespielt, aber jetzt, beim Vorlesen des Autors, habe er gewisse Pausen drin gehabt. Neben Sprüngen in der Zeit gebe es noch Fantasy mit Dracheneiern. „Ich habe deutlich mehr Sympathie für den Text als noch vor zwei Stunden.“

Schwens-Harrant störte Vortragsweise

Brigitte Schwens-Harrant hatte ein ganz anderes Zuhörerlebnis. Sie habe sich gewundert, dass der Autor alles gleich gelesen habe. Auch die Dialoge hätten sie irritiert, weil sie gleich klingen wie das Heimatkundebuch. Wenn man in die Sätze schauen, sehe man, dass sie gut gearbeitet seien. Das gehe bis in die Kleinigkeiten, die genau gearbeitet seien. Der Umgang mit Geschichte interessiere sie immer, auch wenn sie nicht im Ganzen erfassbar sei. „Auch der Bogen von der Eiszeit bis zur Hitze ist schlüssig“. Auch Kastberger habe Recht, denn sie habe sich auch gefragt, wohin das jetzt führe, was das Zentrum sei.

Insa Wilke meinte, es gebe zwei Gravitationszentren, eines sei der Nebenschauplatz die Insel Warenz. Die Geschichte des Ortes werde zu einem gewaltsam wirkenden Zentrum, weil hier Gewalten in Form von Naturkatastrophe, Diktatur, Vergewaltigung wirken. Das verbinde sich für sie. Das zweite Gravitationszentrum sei die Frage nach Literatur und Wirklichkeit. In den Diskussionen gehe es immer auch darum, was bedeute es, Wirklichkeit herzustellen. „Für mich entwickelt dieser Text Fliehkräfte.“

Tingler fand Winkels’ Aussage kurios

Tingler sagte zur Textebene, dieser Text vermöge es nicht, aus den anderen Textlandschaften eine stimmige Landschaft zusammenzufügen. Die Winkels-Aussage sei kurios, dass die Geschichte keine Fahrt gewinnen dürfe. Denn dann könne man jeden Text mit dem Argument des Metaexperiments in die Arena werfen. Man müsse gewisse Kriterien haben, einen Text zu beurteilen. Winkels antwortete, ein Indiz für Spannung sei der Wunsch von Kastberger, selbst nach Mecklenburg-Vorpommern zu fahren und zu schauen, ob das alles so stimme.

"Ist Mecklenburg-Vorpommern völlig uninteressant?

Kastberger sagte zu Winkels, er habe ihn auf einen schrecklichen Gedanken gebracht: Es könnte sein, dass Mecklenburg-Vorpommern ein völlig uninteressantes Gebiet sei und dass es keinen Grund gebe, hinzufahren. Manche Sensationen im Text könnten in einem Kinderbuch stehen, wie der letzte Drache. Hubert Winkels mache eine Schwäche des Textes zu Stärken, „das geht so auch nicht“. Dass man in „taut taut taut“ über das Ende der Eiszeit eine großartige Leistung sehe, finde er simpel. Man müsse schon dreimal um die Ecke denken.

Wilke liebt Um-die-Ecke-Denken

Wilke meinte, sie liebe es, dreimal um die Ecke zu denken. Aber was die angesprochenen Kriterien von Philipp Tingler betreffe, man könne von fixen Kriterien ausgehen, dann könne man das auf einer Liste abhaken. Bei ihr seien diese Kriterien aber flexibel und ergeben sich aus den Texten. Man müsse sich diese Kriterien immer neu erarbeiten. Tingler warf ein, ein innerer Kern eines Textes sei ein Kriterium, die Stimmigkeit. Wilke meinte, das habe sie vorher erklärt.

Nora Gomringer sah eine Stimmigkeit im Text. Man sei in einer Stonehengestory. Sie möge den Gedanken einer Schatzsuche und finde die Collage gelungen.

Winkels wollte noch loswerden, dass der Text auch für Kinder funktionieren würde, sei richtig. „Es braucht wenige Striche, bis etwas zu Laufen beginnt.“ Man brauche wenig, und zack, sei etwas da. Da könne man lernen, welche Elemente brauche es, um etwas vor dem inneren Auge zu sehen. Das ploppe auf und dann sei es wieder weg.