Helga Schubert
ZDF/SRF/ORF/3sat
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Jurydiskussion Helga Schubert

Helga Schubert las auf Einladung von Insa Wilke den Text „Vom Aufstehen“. Eine Geschichte über das Leben und Sterben ihrer Mutter und ihre Beziehung zu ihr, Erinnerungen an den Krieg und die DDR und was es aus Menschen machte. Die Jury zeigte sich berührt.

Der Text hat zwei Handlungsstränge und schildert mit Rückblenden und persönlichen Eindrücken das tägliche Aufstehritual einer Frau namens Helga samt Erinnerungen an ihre hochbetagte Mutter und die Empfindungen zu ihrem kranken Mann.

Hubert Winkels bedankte sich für den „schönen Text“. Er erinnerte sich an die vier Juryjahre von Helga Schubert. „Ich weiß, dass wir Zuhörer skeptisch waren, sprechen die für ihren Staat, ist das was Stasihaftes dabei. Im Nachhinein ungute Abgrenzungen“, so Winkels. In einer Passage im Text heißt es, wen interessiert das, nimmt man mich ernst. Winkels sagte, ihn berühre der Text, nicht nur von der Geschichte her, sondern von der Form her. Das tue der Text mit Raffinement, so Winkels.

Winkels: Motiv des Verzeihens

Eine Frau, die aufsteht und 80 Jahre Leben bis hin in NS-Zeit, DDR und Flucht erzähle. Es gebe eine ganze Serie von Aufstehmomenten im Text, „Wir begreifen, dass der Mann, den sie mit Kaffee beglückt, das 50 Jahre mit ihr gemacht hat.“ Das werde ebenso beschrieben wie das Aufstehen der Mutter, die immer alleine aufstehen musste. Das Verhältnis zur Mutter sei entscheidend, denn die Mutter sei erst vier Jahre zuvor gestorben. „Sie tun das, was Ihre Mutter gewünscht hat und beschreiben die Mutter mit großer Nachsicht, obwohl die Mutter grausam ist.“ Sie mache ein „großes Verzeihen in knappen Sätzen“ daraus, zollte Winkels Anerkennung. Das sei ein grundchristliches Motiv, das Verzeihen. „Damit gibt es etwas Heiles in der Welt.“

Helga Schubert
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Tingler: Liebe Helga Schubert

Philipp Tingler sagte, seit heute liebe er Helga Schubert. „Ich möchte erwähnen, dass mir der Porträtfilm gut gefallen hat, dass man auf interessante Art eine Autorin ihr Schaffen erzählt.“ Der Text gefalle ihm, der Rahmen sei gelungen, der Zustand des Aufstehens, der ja auch ein Bewusstseinszustand sei. „Mir gefällt das Programm, etwas zu schreiben, damit es jemand weiß.“ Stellenweise bleibe der Text aber hinter dem Programm zurück. Wir haben es mit einer psychologisch versierten Autorin zu tun, die Möglichkeiten werden aber nicht ausgeschöpft, vermutete Tingler eine gewisse Befangenheit. Der Abstand sei vielleicht nicht groß genug.

Kastberger mochte den Vortrag

Klaus Kastberger sagte: "Ich fand die Art und Weise, wie der Test vorgetragen wurde, sehr angenehm und befreiend. Ich halte es nicht aus, wenn Autorinnen und Autoren ihre Texte in langsamer getragener Weise vortragen. Das Vogelgezwitscher im Hintergrund hat sich gut gemacht.“ Der Text sei autobiografisch, das liege auf der Hand. Die Autobiografie halte man gemeinhin für eine einfache Form. Man glaubt, irgendwer schreibt ihr Leben herunter und je spannender das Leben war, desto besser. Das sei es nicht, denn Autobiografien seien die komplexeste literarische Form.

Klaus Kastberger
ORF/Johannes Puch
Juror Klaus Kastberger liest mit

„Das Maskenspiel mit sich selbst beherrscht der Text.“ Ihm gefalle die Collage verschiedener Beschreibungstechniken. An einer Stelle hatte er das Gefühl, es könnte doch Popliteratur in der DDR gegeben haben, wenn die Autorin beschreibe, dass es nur sei einziges französisches Parfum gegeben habe (Rochas) und man Sartre gelesen habe. An manchen Stellen sei es ihm zu klischeehaft geworden, wo der Text lamentiere „in dieser unendlich eisigen Welt“.

„Schön zuzuhören“

Brigitte Schwens-Harrant meinte, “Da kann ich gut anschließen." Zum Erzählen sagte sie, es sei schön gewesen, zuzuhören. „Das Erzählen des Lebens ist auch eine Kunst.“ Der Text beginne am Anfang des Tages handle aber auch vom Ende des Lebens. Die Autorin habe ein enges formales Korsett gewählt, um den Tagesanfang zu wählen und die Revue des Lebens einzubauen. Zwei Frauenleben werden mit politischen Umständen verknüpft.

„Sehr gut gemacht“. Sie sei erstaunt über den grundsätzlichen Ton des Annehmens gewesen. Das Wort Verzeihen komme nicht vor, aber es sei eine Geste der Mutter gegenüber. Der Schmerz sei in den Text gewoben.

Wilke wurde vom Text angerührt

Insa Wilke sagte, der wichtigste Grund, den Text einzuladen, sei gewesen, sie sei angerührt gewesen. „Er hat in mir etwas zum Klingen gebracht“. Der Text erzählte zwar von Katastrophen, aber auch davon, wie jemand mit dem Leben Frieden machen könne. „Wir leben in einer unendlich eisigen Welt“, das sei kein Klischee, so Wilke. Sie habe sich gefragt, sei der Text pathetisch, das sei er aber nicht. „Helga Schubert ist zwar keine Pfarrerstochter, verwendet aber christliche Motive, die hinterfragt werden.“ Sie rege an, mitzufragen und mitzudenken. Der Text sei eine große Liebesgeschichte und „raffiniert gebaut“. Sie sei sehr begeistert.

Moderator Christian Ankowitsch
ORF/Johannes Puch
Moderator Christian Ankowitsch

Diskussion über Bewertung von Biografien

Tingler meldete sich nochmal zu Wort und warf ein, man spreche hier über Literatur. „Der fiktive Status von Romanfiguren ist für mich sakrosankt, egal, wie sie ihren in der Wirklichkeit lebenden Verwandten sehen mögen.“ Sonst begebe man sich auf ein heikles Feld, dass man den Text moralisch beurteile. Ihn interessiere nicht, ob die Autorin ihrer Mutter verzeihe, sondern wie der Text gemacht sei.

Das persönliche Berührtsein sollte nicht über handwerkliche Schwächen stehen. Insa Wilke antwortete direkt und meinte, das sei ein Missverständnis, keiner hier verzichte auf Textarbeit. Man mache das nur auf unterschiedliche Weise. In der Literaturkritik gebe es permanent ein Missverständnis, dass autobiografische Texte kein Gegenstand von Literaturkritik sein können, das sei fatal.

Tingler fand das hoch interessant und fragte: „Gilt für dich die Aussage, der fiktive Status der Romanfigur ist sakrosankt?“ Nein, sagte Insa Wilke. Dann gebe es einen grundlegenden Unterschied, meinte Tingler. Er gehe von jedem Text als fiktiv aus.

"Elegien könnten schief gehen

Michael Wiederstein meinte, man sollte in den Text einsteigen und schauen, warum er so berühre. Solche Elegien können sehr schief gehen, man neige zur Verklärung von Verstorbenen, das passiere hier aber nicht. Es gebe keine geschönte oder weggeschmetterte Vergangenheit mit der Mutter. „Der Text transportiere Empathie und Wärme durch die Stilmittel.“ Er finde die Passage über die Reflexion des eigenen Schreibens störe ihn, man hätte sich auf die Schilderung verlassen können.

Erleben einer Kriegsgeneration

Nora Gomringer sagte, Wiederstein gehe von einer zärtlichen Mutter aus, die es vielleicht gebe. Aber wie man hier die Beziehung geschildert bekomme, dass Helga eine Mutter hatte, die eine normale Frau gewesen sei. Es sei eine normale Schilderung, ihre Mutter sei aus derselben Generation. Sie habe sich gefragt, könnte man eine vom Krieg gezeichnete Zweitgeneration beschreiben, das könne man und man könne es anders schreiben.

Die Tochter vergebe in der Hospizsituation der Mutter, obwohl diese die Vergebung vielleicht gar nicht brauche. „Das hat mich sehr berührt“, so Gomringer. Sie halte es aber auch mit Tingler, man müsse den Text genau betrachten. In einzelnen Konstrukten sehe sie Vages. „Ich bin nicht ganz dabei".

Winkels: Berührt auch beim genauen Hinschauen

Winkels sagte, es gebe zwei interessante Schulen – ein Text ist ein Text, er sei auch so strukturiert. Wenn moniert werde, die Welt sei unendlich eisig, falle das aus der Beschreibung heraus. Der Satz „alles gut“ sei Erlösung, die Dinge fügen sich im Text auf wunderbare Weise. Auch wenn man handwerklich genau hinschaut, könne man berührt sein.

Insa Wilke sagte, der Text handle auch davon, wie jemand auf eine bestimmte Weise werde. Was habe der Krieg mit den Müttern, den Menschen gemacht. Schubert sei gebildet und arbeite mit Motiven. Wie komme eine Mutter dazu zu sagen, schade, dass Du auf der Flucht nicht gestorben bist. Wie könne man damit leben und miteinander ins Gespräch kommen. Sie tritt mit den jüngeren Lesern in ein Gespräch mit dem Verfahren des Fragens.

Kastberger im germanistischen Proseminar

Klaus Kastberger meinte, er fühle sich im germanistischen Proseminar wohl. „Autobiografie stellt die Fiktion her, dass der Autor und die Figur das gleiche sind.“ Es sei ihm zu simpel, zu sagen, man schaue bei jedem Text nur darauf, ob er fiktional sei. „Für mich ist alles Fiktion“ – wiederholte er Tinglers Aussage und meinte, die Autorin sei hier klüger. Schubert schreibe über sich selber und mache gleichzeitig klar, dass es nicht Helga Schubert sei, die da drin stecke.

Tingler konterte, ihm werden Worte in den Mund gelegt. Er möchte, dass Texte objektiv beurteilt werden und keine moralischen Punkt. Ein Text müsse sprachlich gut und künstlerisch ansprechend gemacht sein.

Insa Wilke merkte noch an, es gebe die Rezeptionstheorie, die sich Texten nach ihrer Wirkung annähere.