Lesung Egon Christian Leitner
WDW Film
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Jurydiskussion Egon Christian Leitner

Egon Christian Leitner las den sozialkritischen Text „Immer im Krieg“ in Form von einzelnen Geschichten über Menschenschicksale im Sozialstaat. Für Philipp Tingler zu rigide und verstaubt, doch die übrigens Jurymitglieder fanden verteidigende Worte.

Insa Wilke fand es „erstaunlich“, wie viele Texte in diesem Jahr indirekt das Bewusstsein voraussetzen, das von Katastrophen oder von einem solchen Lebensgefühl geprägt seien und fragen, wie man sich dann verhalten solle. Hier sehe sie eine Gesellschaftskritik mit Geschichten in einem Eulenspiegelton. Eine zentrale Stelle sei für sie der Satz „Gegen Menschen, die eine absolute Entschlossenheit haben, kommt man nicht an“. Man wolle helfen, aber das gehe nach hinten los. Die Motive des Helfens werden hinterfragt. Kleine Geschichten werden erzählt.

Tingler: Verstaubte Klischees

Philipp Tingler in Richtung Wilke: „Ich bin schockiert, ambivalent oder komplex ist dieser Text nicht“. Er sei hermetisch, ein kleines Weltbild werde präsentiert. Es sei eine Weltdeutung, die unfreiwillig das Problem widerspiegelt, dass es kategorische Positionen gebe – es sie klar, wo die Bösen oder Guten sitzen. „Diese Diskussion sollten wir hinter uns haben.“ Er sehe keine Bereitschaft zum Dialog in diesem Text, er arbeite mit verstaubten Klischees.

Wilke antwortete, sie würde Tingler gerne zur Textarbeit auffordern. Tingler: Die Sprache ist belanglos. Wilke versuchte weiterzusprechen, wurde aber von Tingler erneut unterbrochen und brach ab.

Michael Wiederstein und Egon Christian Leitner
ORF/Johannes Puch
Juror Michael Wiederstein mit Egon Christian Leitner

Wiederstein fand Text „gelungen“

Michael Wiederstein sagte, er finde gut, dass die ersten Wortmeldungen auseinander gehen, er könne beide verstehen. Der Sozialstaat sei das umstrittenste Projekt der Gesellschaft. „Ich habe immer Angst vor dieser Art Gewerkschaftsprosa“, das sei hier aber nicht der Fall. Der Text öffne Perspektiven von Menschen, die im Sozialstaat kämpfen. „Es geht um das Recht, zu sein“, das zeige der Text in vielen Perspektiven. Der Autor integriere sich, sei Teil davon, er habe eine Haltung. Es arbeite aber nicht mit dem Holzhammer – „gelungen“.

Hubert Winkels wunderte sich über die ersten beiden Meldungen. Der Text gebe sich bescheiden und hilflos. Er sei klar, dass es ein sozialaktivistisches Milieu sei, viele Geschichten handeln von Therapiesitzungen, Seminaren oder Vorträgen. Man bekomme eine Vielfalt von Splittern mit einigen Stellen, in denen der Erzähler mehr involviert sei.

Tingler moniert rigide Haltung

Tingler sagte: „Liebe JurykollegInnen, ich versuche, mich zu mäßigen“. Dieser Text habe eine sehr strikte und rigide Haltung das sei, was er moniere. Aus literaturkritischer Perspektive kritisiere er das hermetische Weltbild. Literatur ist dafür da, Erfahrungsräume aufzumachen und Welten zu eröffnen. „Kunst verträgt sich nicht mit Ansicht.“

Winkels sagte zu Tingler, er wiederhole nur sein Ursprungsstatement. Tingler sprach dazwischen und holte sich einen Rüffel des Moderators, auch er müsse es aushalten, wenn ihm jemand dazwischenrede.

Rüge von Wilke wegen Durcheinanderredens

Insa Wilke bekam das Wort und sagte, sie würde die Herren darauf hinweisen, dass das Publikum nichts verstehe, wenn zwei gleichzeitig sprechen. Es gehe hier um Geschichten mit absoluter Überzeugung. Tingler kritisiere Überzeugungen, wolle seine Überzeugung von Literatur aber als absolut verstanden wissen. Helfen sei nicht nur etwas Gutes, es werde gezeigt, wo die Problematik darin liege.

Brigitte Schwens-Harrant sagte, man habe in der Jury unterschiedliche Zugänge zu Literatur und sie verwahre sich dagegen, in eine Gruppe verortet zu werden. Die Stereotypen mit Gut und Böse habe sie in anderen Texten gesehen. Sie habe mehr Fragen als Antworten zu diesem Text. Zum Textlichen sagte sie, gefallen habe ihr am Anfang, dass sie durch die erwähnten Zahlen so hineingestolpert sei. Interessant sei, dass es eine Klammer dieser Zahlen gebe, sie kommen am Ende in aller Absurdität noch einmal. Die Frage der Vermessung und Ökonomisierung von Menschen sei ein immens wichtiges Thema. „Das handelt er auf unheimliche skurrile Weise ab, wo einem das Lachen im Hals stecken bleibt.“

Kastberger wollte radikalen Text

Klaus Kastberger, der den Text eingeladen hatte, sagte, er habe der Welt nichts Schönes schenken wollen, sondern einen radikalen Text einladen. Er sei erstaunt über die Reaktionen. Hinter dem Text stehe ein Gesamtwerk. Er sei radikal, weil er auf heutige soziale Wirklichkeiten hinweise. „Er hat eine absolute Entschlossenheit, was in unserer Welt in sozialer Hinsicht los ist.“ Hier habe er eine christliche Technik, ecce homo. „So, die magersüchtige Frau ist verhungert“, er zwinge dazu, hinzuschauen. Auch heute seien Menschen statistisch erfasst, alles ist ausrechenbar. Deswegen gebe es diese Zahlenelemente. „Wir sind berechenbar und so wird mit uns umgegangen.“

Nora Gomringer fand den Text als Hineinlesen in ein großes Leiden, ein Tagebuch, in dem immer Krieg herrscht. Sie verstehe den Eindruck der kategorischen Positionen. Durch die Zahlen sehen viele einen Überstaat und eine Bedrohung. „Ich habe es gerne gelesen, ein großer Wurf.“

Autor meldete sich zu Wort

Tingler stimmte Kastberger mit der Entschlossenheit zu, ihm sei der Text aber zu Entschlossen. Er habe eine kategorische Auffassung von Literatur, das finde er nicht schlimm, deswegen sei er hier. Literatur solle nicht beengen, sondern öffnen.

Wiederstein hält die Zahlenpassage als platt. Es müsse beim Geldverteilen in einem Sozialstaat Messungen geben. Die Stärke vom Text liege nicht im Effekt am Anfang, sondern in den Szenerien, in die sich der Erzähler eingemeindet. Er finde ihn nicht überinstrumentiert. Kastberger sagte, das Thema möge altmodisch sein, aber es sei immer noch Thema.

Der Autor meldete sich zu Wort und sagte zu Philipp Tingler, der ihn offenbar für „literaturblöd“ halte, Erich Fromm sei ihm wichtig und was dieser Objektivität genannt habe. Objektivität sei, Menschen und Sachverhalte nicht zu entstellen. Er versuche, Dinge zu durchbrechen. Er fände es auch gut, wenn alle Autoren etwas aus dem Preistopf bekämen, das wären rund 4.000 Euro für jeden Autor.