Lesung Mara Genschel mit Schnurrbart
ORF
ORF

Kontraste und ein Bart am zweiten Lesetag

Barbara Zeman und Mara Genschel beendeten den zweiten Lesetag, letztere mit aufgeklebtem Schnurrbart. Ana Marwan las am Vormittag einen Text über eine Eremitin, die über die Möglichkeit eines Kindes sinniert. Danach der brutale Text einer Knasterfahrung von Behzad Karim Khani und eine irakische Kindheitserinnerung von Usama Al Shahmani.

Das Wetter spielte bisher wunderbar mit, beide Lesetage konnten zur Gänze mit Lesungen im ORF-Garten bestritten werden. Die Jury sitzt im Studio, das Publikum teilt sich nach Lust und Laune auf.

Publikum beim Zuhören im ORF Garten
ORF/Johannes Puch
Publikum im Garten bei Kaiserwetter

Eine nicht nur Liebesgeschichte in Italien

Die Österreicherin Barbara Zeman, eingeladen von Brigitte Schwens-Harrant las als erste Autorin am Nachmittag den Text „Sand“. Die Reise eines Paares in der kalten Jahreszeit mit dem Zug von Wien nach Venedig und dem Bus weiter nach Ghioccia in eine Ferienwohnung. Josef ist Architekt und erholt sich von einem schwierigen Auftrag, seine Begleiterin erholt sich von der Diagnose eines gutartigen Tumors. Das Verhältnis der beiden scheint abgekühlt, dennoch machen sie Ausflüge nach Venedig. An einem Tag sind sie am Strand und die Protagonistin geht ins Wasser, weiter hinaus, dorthin, wo es tief wird. Ihr Mann läuft rufend hinter ihr her, doch er ist zu weit weg.

Lesung Eva Zeman
ORF
Eva Zeman

„Aus der Mode“ aber nicht „baden gegangen“

Vea Kaiser begeisterte sich für den Vortrag des Textes, sie habe beim eigenen Lesen gar nicht alles erfassen können. Mara Delius fand den Text etwas aus der Mode geraten, die Bilder seien aber poetisch aufgeladen, nicht aber überladen. Philipp Tingler meinte, er finde auch, dass der Text aus der Mode gekommen sei, „zum Glück“. Das einzige Kriterium der Komposition die Selbstbezüglichkeit, so Tinger.

Klaus Kastberger fand es einen klugen Schachzug, dass die beiden Figuren nicht nach Venedig, sondern nach Chioggia fahren. Denn es fahren viel zuviele nach Venedig mit. Insa Wilke gefiel das Spiel mit vielen Referenzen im Text. Für Michael Wiederstein ging der Text nicht baden, er sei melancholisch, doch die vielen Referenzen überfrachten den Text – mehr dazu in Jurydiskussion Barbara Zeman.

TddL 2022 Genschel zu Tingler bei Jury-Diskussion

Bravorufe für Schnurrbart-Lesung

Als letzte Autorin des zweiten Tages liest die Deutsche Mara Genschel auf Einladung von Insa Wilke den Text „Das Fenster zum Hof“. Mit aufgeklebten Schnurrbart und US-Akzent erschien die Lesung mehr als Performance, was vom Publikum mit Bravo-Rufen honoriert wurde. Die Autorin sagte aber zur Jury, es sei keine Performance gewesen, sie habe nur gelesen und sich „schick“ gemacht.

Mara Genschel mit Schnurrbart
ORF
Mara Genschel legte sich in der Frage, ob es sich um eine Performance handelte oder nicht mit Philipp Tingler an, der beleidigt reagierte „ich habe keine Lust mehr“

Es ist ein Text mit drei Titeln, die sich im Lauf der Erzählung ändern. Der Ich-Erzähler ist ein Drebuchautor, der den Auftrag hat, das Script für einen neuen „Tatort“ zu schreiben. Abgelenkt wird er durch das Fenster auf die stark befahrene Straße vor seiner Wohnung, aber noch durch ein zweites Fenster, das den zweiten Titel der Geschichte ausmacht „Das ‚andere‘ Fenster“. Er beobachtet die Bewohnerin der dortigen Wohnung jeden Tag und grübelt über sie nach. Hier ergibt sich der dritte Name der Geschichte: „Das magische Fenster der Martha Gescheul“.

Jury zeigte sich „amüsiert“

Philipp Tingler amüsierte sich nicht über den Text sondern über die Auswahl von Insa Wilke, er beschied dem Text, er sei „wesentlich anstrengender zu hören und zu lesen als zu schreiben“. Vea Kaiser widersprach, sie haben sich „köstlich amüsiert“. Für sie beginne die Geschichte schon vor der Lesung. Klaus Kastberger fragte sich auch, ob es eine Lesung oder eine Performance war. Er fand es aber „ein Vergnügen“, die Jury habe es wieder aus der Mittagspause gerissen. Mara Delius wiederum fand die Art der Lesung ablenkend, die Figur sei aber interessant. Wilke verteidigt ihre Autorin, die Geschichte beginne wirklich schon vor der Lesung. Sie habe beim Lesen herzlich gelacht.

Tingler war weniger amüsiert, vor allem als sich die Autorin einschaltete und ihm vorwarf, er spreche von Performance, sie habe sich nur für die Lesung schick gemacht. Tingler konterte, dass das nicht er alleine sage, sondern die gesamte Jury. Er finde das albern und schloss „jetzt habe ich keine Lust mehr“ – mehr dazu in Jurydiskussion Mara Genschel.

Lesung  Ana Marwan
ORF
Ana Marwan liest

Ana Marwans „Wechselkröte“

Als erste Autorin des ersten Lesevormittages las Anna Marwan ihren Text „Wechselkröte“. Die Ich-Erzählerin wohnt zur Miete, irgendwo weit draußen. Sie ist viel allein, macht sich nur für den Postboten und den Gärtner zurecht. Von ihrem Mann wird zwar gesprochen, er wird aber nicht näher vorgestellt. Im Garten der Mietwohnung steht ein kleiner verwahrloster Pool. In dem Pool entdeckt sie eine Kröte und freut sich über Gesellschaft. Sie bringt das Tier zur Donauau und setzt sie aus. Dann erfährt sie, dass sie schwanger ist und stellt sich das Kind vor.

Jury: Zwei Texte in einem

Mara Delius sagte, sie habe Ana Marwan vorher nicht gekannt. Der Text sei ein feinsinnig aufgebautes Porträt einer Eremitin, einer Außenseiterin. Formal extrem interessant, weil sie das klassische Motiv der feministischen Literatur sehr humorvoll variiert. Eine Frau, die sich in ein Haus zurückzieht, um sich einen Schutzraum zu suchen, aus dem sie beachten könne.

Philipp Tingler sah keine die Darstellung eines Rückzugs, er sehe den Text als Demonstration einer spätmodernen Befindlichkeit, das Ich existiere nur in der Sichtbarkeit. Der Wunsch, gesehen zu werden, nehme absurde Züge an. Er sehe ein Leiden beim Nicht-Gesehenwereden. Michael Wiederstein sagte, er habe den Text noch ganz anders gelesen, ihm gehe es nicht um eine Eremitin, denn es deute ja einiges auf einen Mann hin. Sie habe sich für das Land entschieden und bekomme die Nachricht, dass sie schwanger sei, als der Mann nicht da war. Im zweiten Teil komme öfter der Satz „ich stelle mir vor“. Die zwei Texte funktionieren, meinte Wiederstein. „Eine gelungene Komposition“. Kastberger sagte, der Text spiele damit, Möglichkeit aufzumachen. Er suche potenzielle Lebensformen. Er fühle sich erinnert an den Film „Apokalypse now“ im Urwald Vietnams – mehr dazu in Jurydiskussion Ana Marwan, SLO.

Behzad Karim Khani
ORF
Behzad Karim Khani

Behzahd Karim Khani mit Knastgeschichte

Der Deutsche Behzahd Karim Khani las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Vae victis“ (Latein für: Einem Unterlegenen geht es schlecht). Der Iraner Saam wird nach einem Raubüberfall in Berlin-Neukölln im Gefängnistransporter in die Haftanstalt gebracht. Auf dem Weg dorthin schlägt er einen anderen Mann nieder, um die Rangordnung zu klären. Dafür erhält er ein weiteres Jahr Haft zu den vier für den Raubüberfall. Ohne Angabe von Gründen wird Saam nach einiger Zeit in Einzelhaft gesteckt. Langsam aber sicher zerbricht er, entwickelt Tics, zählt Schritte, teilt Essen in seine Komponenten auf, schläft in einer selbst gebauten Deckenhöhle. Als sie Saam wieder in seine normale Zelle bringen, lässt er etwas in Einzelhaft zurück, das er als Verstand bezeichnet.

Von „The Wire“ bis zur „Hipster-Boulangerie“

Insa Wilke sah im Text eine gute Genre-Erzählung, eine Knast-Erzählung. Sie kenne das vor allem aus Fernsehserien wie „The Wire“. Denn Schluss mit der Fliege habe sie auch bereits im Fernsehen gesehen. Es gebe viele filmische Assoziationen, obwohl Jules Verne und Charles Dickens genannt werden. Michael Wiederstein fand den schnell geschnittenen und harten „Orange-is-the-new-Black-Beginn“ sehr gelungen. Es knalle und es werde kein Blatt vor den Mund genommen. Man wisse direkt, wo man sei, das funktioniere. Von hier an verfalle der Text in eine Art „Hipster-Boulangerie hinter schwedischen Gardinen“.

Mara Delius sagte, sie glaube, man tue dem Text Unrecht, wenn man ihn zu schnell als Genre-Text lesen möchte. Sie habe die Schnelligkeit des Textes eher interessiert, sie wolle die Kategorie des Sounds in Erinnerung rufen, diese sei für den Text sehr wichtig. Der Sound des Textes habe etwas von Kendrick Lamar und Rap, eine unglaubliche Härte, so Philipp Tingler – mehr dazu in JurydiskussionJurydiskussion Behzad Karim Khani (3162134).

Eine Kindheitserinnerung im Irak

Usama Al Shahmani, CH/IQ, eingeladen von Michael Wiederstein, beschloss den Vormittag des zweiten Lesetages mit dem Text „Porträt des Verschwindens“.
Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit im Irak, mit seiner analphabetischen Großmutter und ihrer Freundin, der gebildeten, westlichen Apothekerin. Bis diese das Land 1979 nach der Machtergreifung von Saddam Hussein verlassen musste.

Usama Al Shahmani bei Lesung
ORF
Usama Al Shahmani

Als Saddam im Fernsehen gezeigt wurde, wie er das Flugzeug verließ, flüsterten die Erwachsenen und verboten den Kindern das gewohnte Spielen zwischen den Geschlechtern. Mädchen zu Mädchen, Jungen zu Jungen, Schleier mussten von den Frauen getragen werden, das sei jetzt so. Der Erzähler erinnert sich aus dem Exil, an das er sich nicht gewöhnen kann, an das Ende seiner unbeschwerten Kindheit durch politische Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hatte.

Von „grandios“ zu "betulich

Klaus Kastberger fand den Text „grandios“, er könne dem Auto noch länger zuhören und lobt die „erste richtige Erzählung“. Ähnlich äußerte sich auch Brigitte Schwens-Harrant. Das Kind erlebe hier als Zuseher, die Bedeutung der Sprache, das finde sie sehr schön erzählt. Für Tingler war der Text so konventionell, dass er von einem Algorithmus geschrieben hätte werden könne. Mara Delius fand ihn „betulich“, Vea Kaiser fand ihn „sehr schön“. Michael Wiederstein sah den Text weniger betulich als ruhig und einfach. Für die irakische Literatur sei das ein Stück weit revolutionär – mehr dazu in Jurydiskussion Usama Al Shahmani.

Erster Tag brachte keinen klaren Favoriten

Der erste Lesetag brachte angeregte Jurydiskussionen. Ein möglicher Favorit könnte Alexandru Bulucz sein. Auch Eva Sichelschmidt und Leon Engler dürfen sich wohl Hoffnungen machen – mehr dazu in Erster Lesetag auf Gartenbühne beendet.

Alle Lesungen und Diskussionen werden von 3sat live übertragen, auf bachmannpreis.ORF.at und tvthek.ORF.at gestreamt. Die Jurydiskussionen werden als Transkript zusammengefasst und sind als Text abrufbar.