Usama Al Shahmani bei Lesung
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Jurydiskussion Usama Al Shahmani, CH/IQ

Usama Al Shahmani, geboren im Irak, lebt in Freauenfeld in der Schweiz. Er las auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Porträt des Verschwindes“, Kinderheitserinnerungen an den Irak bis zur Machübernahme von Sadam Hussein.

Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit im Irak, mit seiner analphabetischen Großmutter und ihrer Freundin, der gebildeten, westlichen Apothekerin. Bis diese das Land 1979 nach der Machtergreifung von Saddam Hussein verlassen musste. Als Saddam im Fernsehen gezeigt wurde, wie er das Flugzeug verließ, flüsterten die Erwachsenen und verboten den Kindern das gewohnte Spielen zwischen den Geschlechtern. Mädchen zu Mädchen, Jungen zu Jungen, Schleier mussten von den Frauen getragen werden, das sei jetzt so. Der Erzähler erinnert sich aus dem Exil, an das er sich nicht gewöhnen kann, an das Ende seiner unbeschwerten Kindheit durch politische Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hatte.

Usama Al Shahmani bei Lesung
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Lesung

Kastberger: „Grandios“

Nach einer kurzen Pause führte Klaus Kastberger in die Jurydiskussion ein. Er könne dem Autor noch viel länger zuhören, die Welt die er entwerfe und der Einstieg in die Geschichte sei grandios. Der Text sei vor dem Hintergrund der Frage des Exils, der Frage nach Heimat und „wie man das, was man Zuhause hatte, in die fremde Welt nimmt". Das spiele sich zum Beispiel zwischen den Dingen und Schriften ab, die man hatte, die einen „fleischlichen Charakter“ bekommen, wenn sie aus dem Arabischen gekommen seien.

Die Perspektive des Kindes auf die historischen Veränderungen im Heimatland sei hoch interessant, so Kastberger. Ein zentrales Element seien auch die unterschiedlichen Vermittlungsformen von Geschichte und Erinnerung, die sich in der Figur der Großmutter und des Enkels repräsentieren. Die Übersetzungsleistung dessen, was die Großmutter mündlich überlieferte und wie das der Text in Schrift speichere, sei eine zentrale Frage. Ebenso habe der Text Witz und Humor, so Kastberger, das sei eine weiteres wesentliches Qualitätskriterium des Textes.

Lesung Usama Al Shahmani
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Lob auch von Schwens-Harrant

Brigitte Schwens-Harrant schloss sich Kastberger an. Es sei eine sehr schöne Rahmung, gerade in Klagenfurt, wo es um Literatur gehe, dass der Text mit einem Tisch voller Worte beginne. Mit diesem Rahmen ende es auch wieder, damit gebe es auch einen Schwenk der Perspektive. Es spiele Jahre später im Exil und man gehe doch wieder zurück in die Kinderperspektive. Das Kind nehme an Hand von Kleinigkeiten große Veränderungen wahr. Man ahne, um welches Jahr es sich handle, das Jahr 1979, ein Datum, das nicht nur dort, sondern für alle das Datum für große Veränderungen und Katastrophen darstelle. Es gebe auch eine emanzipierte Frau, die Freundin, die der Großmutter das Lesen beibringen will. Das Kind erlebe hier als Zuseher, die Bedeutung der Sprache, das finde sie sehr schön erzählt.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Tingler sah Konventionaltiät

Philipp Tingler sagte, er finde, der Text habe alles, was man erwarten würde, das sei für ihn das Problem des Textes. Er finde es überraschend, dass gerade Michael Wiederstein diesen Text ausgewählt habe, da er am ersten Lesetag die Konventionalität von Figuren und Plots kritisiert habe. Dieser Text „strotze nur so von Konventionalität“, sei so konventionell, als hätte ein Algorithmus ihn geschrieben. Man habe alle gängigen Topics darin vereint. Das einzige, das zumindest formal unkonventionell sei, sei das rezitierte Gedicht im Text. Dieses Gedicht sei in seiner Qualität aber auch wieder „nur so ehhh“, sprach Tingler seine Abneigung aus.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Für Delius zu „betulich“

Mara Delius sagte, er sehe es nicht so radikal wie Tingler, habe jedoch auch eine ambivalente Sicht auf den Text. Das liege vor allem an der Art und Weise, wie erzählt werde und wie sich Sprache durch den Text ziehe. Die Erzählweise sei für Delius in Teilen zu „betulich“.

Vea Kaiser schloss sich ihren beiden letzten Vorrednern in ihrer Kritik an. Es sei ein „sehr schöner Text“, aber er sei sehr konventionell und es gebe eine Diskrepanz zwischen Erzählweise und der „Überbetonung des Motives des Wortes“. Kaiser sagte, sie finde es aber an sich sehr schön, wie das Wortmotiv verhandelt werde. Die größte Stärke des Textes sei, dass er die arabische Dichtungstradition sehr stark aufgreife, z.B. über Naturbilder und Gleichnisse, ohne die im Deutschen „so extrem heilige Ironie und ohne den Pathos“, so Kaiser. Leider scheiterte der Text auch für sie an der Konventionalität. Das Motiv Wort sei sehr bemerkenswert, sprachlich sei es nicht entsprechend umgesetzt.

Insa Wilke Juryvorsitzende
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Insa Wilke

Wilke sieht zwei vielsagende Daten

Insa Wilke sagte könne an verschiedene Dinge anschließen. Für sie habe der Text das Naive, das bereits von den Jurymitgliedern beschrieben wurde, andererseits habe er aber auch eine Härte. Das habe mit der Jahreszahl zu tun, Wilke findet es bemerkenswert, dass man heuer zwei Jahreszahlen hätte, die etwas in Erinnerung rufen, nämlich 1979 und 1985 bei Alexandru Bulucz. Diese würden im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eine große Rolle spielen.

Man habe hier zwei Jahreszahlen und zwei Autoren, die sie in Erinnerung rufen und diese unauffällig in Zusammenhang mit gegenwärtigen politischen Verhältnissen, nämlich der Verwicklung der arabischen Welt, der Russen und des Westens. Das sei die harte Ebene im Text, über die Kinderperspektive werde das auf die naive Art erzählt. Das sei „gut“ am Text, Wilke schließe sich aber auch den kritischen Stimmen über den Text an. Für sie sehr der Text ein Stück weit eine Genre-Erzählung in der bestimmten Sparte der Exil-Literatur.

Kastberger: Erste richtige Erzählung

Kastberger meinte, es sei der erste Text gewesen, die er „mit Fug und Recht“ eine Erzählung nennen würde. Die Tradition des Erzählens komme aus der Tradition des mündlichen Erzählens, wie es die Großmutter im Text getan habe. Der Text gehöre einer bestimmten Gattung an und nach diesen Gattungsvorgaben sei er auch zu bewerten. Auch Kastberger erinnerte der Text an den von Bulucz, weil das historische Ereignis ebenfalls nicht direkt, sondern distanziert geschildert werde. Er hätte es besser gefunden, wenn die Wirkungen der historischen Ereignisse direkter dargestellt worden wären. Das Innovative und Starke des Textes besteht laut Kastberger darin, dass man sich die einzelnen Wörter als Körper „von immer zwei kulturellen Traditionen aus ansieht“.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Wiederstein: Eher ruhig als betulich

Michael Wiederstein meinte, er würde das Erzählen nicht betulich, sondern ruhig und einfach nennen. Das sei für die irakische Literatur immer noch ein Stück weit revolutionär. Der Text zähle zur jüngeren irakischen Literatur-Strömung, jene Strömung, die das Pathos aus den Geschichten herausnehme. Das Pathos komme aber an den richtigen Stellen wieder zu Wort. Man erinnere sich an die Stelle im Text, an der Männer sich im Garten über Winde in Bagdad unterhalten, das sei „saddam-husseinische Kriegspropaganda“, so Wiederstein. Hier sei das Pathos „super eingesetzt“.

Die Ruhe des Erzählens im Text sei sehr wichtig, weil er nur so die Spannung aufrechterhalten kann. Es werde sehr ruhig erzählt, wie die Rückkehr von Ayatollah Khomeini über eigentlich zwei Länder falle und wie sich das in den Familienalltag hineinschleiche. Man merke die Gewalt, sie sei der Mutter ins Gesicht geschrieben, als der Sohn mit einem veröffentlichten Gedicht heimkomme, wofür er ins Gefängnis kommen könne.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Diese „subtilen Einsprengsel“ funktionieren laut Wiederstein nur, wenn der Text ruhig erzählt werde. In der Diskussion habe man sich bis jetzt auch gar nicht über den Titel unterhalten, drei, vielleicht sogar vier Dinge würden verschwinden, darunter die Buchstaben, der Tisch als Symbol für eine Art Zivilgesellschaft, am Schluss verschwinde vor allem die Freiheit, deshalb sei der Erzähler im Exil.