Mara Genschel
Stiftung Bauhaus Dessau/Yvonne Tenschert 2021
Stiftung Bauhaus Dessau/Yvonne Tenschert 2021

TEXT Mara Genschel, D

Mara Genschel liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Das Fenster zum Hof“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf.

Ach, wie herrlich es wäre, wenn ich diese Geschichte so nennen könnte, siehe oben. Es ist der beste Titel der mir je eingefallen ist. Aber, seien wir ehrlich: das würde einfach nicht der Wahrheit entsprechen! Das Fenster, um welches es geht, ist nämlich eins zur Straße raus, einer großen Straße. „Hauptverkehrsader“ würde ich schreiben, wenn es nicht so nach „Blut“ klänge.

Lange Zeit war es „mein“ Fenster. Mein Schreibtisch stand gleich davor, ich verbrachte damals viel Zeit an seiner leeren, verheißungsvollen Oberfläche, denn ich war gerade erst von Trenton, New Jersey nach Kreuzberg gezogen, um etwas schnelles Geld zu machen. Man hatte mich angeheuert, einen guten Kriminalplot für eine deutsche Vorabendserie zu entwerfen, weil, so mein Boss, „die Deutschen das einfach nicht hinbekommen, Tenny.“ Und, mal ehrlich: die Reihe hieß „TATORT“ (AT) und das war mir Beweis genug.

An diesem Schreibtisch zu sitzen, gab mir schon mal das gute Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir waren ein echtes Team. Seine Tischkante ging gewissermaßen über in eine schmale Fensterbank, auf der eine Reihe von Gegenständen ihres Beschriebenwerdens harrten. Nicht jedoch von mir! Ich war nie der Typ Schriftsteller, der über die Gegenstände auf seiner Fensterbank geschrieben hätte! Deshalb ließ ich meinen Blick meistens durch die Fensterscheibe gleiten: auf alles, was dahinter lag. Aber, ich kann euch sagen! Das war gar nicht mal so leicht.

Um zum Beispiel zu erkennen, was auf der großen Straße vor sich ging, wenn es mal wieder gekracht hatte, musste ich mich jedesmal von meinem Bürostuhl erheben und meinen Oberkörper über den Tisch beugen, was einer gymnastischen Übung übel glich. Die Ereignisse waren dann meist nicht der Rede wert. Mal war es ein demolierter Kleinbus, der, noch im Wendemanöver begriffen, von einem LKW erfasst und zerquetscht aus der Kreuzung ragte — mal ein betrunkenes Mütterchen, das grölend mit einer Wodkaflasche auf die Motorhaube einer Uber Limousine eindrosch. Und immer wieder waren es Demos, Demos gegen dies, Demos gegen das, meistens gegen Krieg, dann wieder gegen das Klima, ein einziges Geschrei. Gott, wer wollte da noch den Überblick behalten.

Außerdem hatte ich es mir angewöhnt, beim Arbeiten meine Cowboystiefel zu tragen, und weil sie mit der Zeit schwer wurden, legte ich oft die Füße hoch, auf die Schreibtischplatte. Das war vielleicht bequem! Aber es schränkte meine Beweglichkeit noch zusätzlich ein. Ich beschloss deshalb an einem bestimmten Punkt meines Manuskripts, auf akustische Reize zu pfeifen. Ich setzte Kopfhörer auf. Ich hörte weg. Mit anderen Worten, ich wurde immer cooler. Ich wurde zu genau dem Typ Schriftsteller, der niemals seine Körperhaltung großartig verlagert hätte, nur um einem Sound, irgendeinem soundmäßig angekündigten, vermeintlichen „Ereignis“ beizukommen. Berlin stand mir verdammt gut!

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