Mara Genschel mit Schnurrbart
ORF
ORF

Jurydiskussion Mara Genschel, D

Die Deutsche Autorin Mara Genschel las auf Einladung von Insa Wilke „Das Fenster zum Hof“ samt aufgeklebtem Schnurrbart und US-Akzent, was vom Publikum mit Bravo-Rufen honoriert wurde. Als Performance wollte sie die Lesung nicht verstanden wissen. Das sei einfach ihr Style sagte sie zur Jury.

Beim Schreiben wird der Drehbuchautor als Protagonist des Textes durch das Fenster auf die stark befahrene Straße vor seiner Wohnung abgelenkt, ebenso durch ein Fenster des Nachbarhauses. Daraus entwickelt sich der zweite Titel des Textes „Das andere Fenster“. Er beobachtet die Bewohnerin des „anderen Fensters“, die Lyrikerin Martha Gescheul. Als eines Tages Handwerker das Fenster mit Plastikplanen verkleben, will er nachschauen, ob sie getötet wurde. Der dritte Titel des Textes entsteht „Das magische Fenster der Martha Gescheul“, eine weitere Möglichkeit wäre „Der Bruch“. Bei dem Versuch zu der Wohnung zu kommen, verschwindet er spurlos – einige sagen, der Autor wurde entführt, andere er sei mit einem Gummiboot davongefahren. Die Nachbarin der Lyrikerin hingegen gab zu Protokoll, er sei in Martha Gescheuls Wohnung verschwunden.

Lesung Mara Genschel
ORF/Johannes Puch
Lesung als Performance

Tingler fand Wilkes Textwahl amüsant

Sehr früh für die Diskussion hatte sich Philipp Tingler gemeldet. Dieses Mal müsse er den Auftakt machen, weil es hochgradig amüsant gewesen sei, jedoch nicht der Text oder die Performance, sondern dass ausgerechnet Insa Wilke diesen Text mitgebracht habe. Er könne es kaum erwarten, von Wilke zu hören, so Tingler sarkastisch, welche politologischen Traditionslinien und metaphysische Universen sie hier auftun würde.

Tingler sagte, er könne den Text an Anlehnung an Gore Vidal so zusammenfassen: „Dieser Text ist wesentlich anstrengender zu lesen und auch zu hören, als zu schreiben“.

Vea Kaiser widersprach

Vea Kaiser widersprach Tingler, ihr sei es ganz anders gegangen, sie habe großen Spaß gehabt und sich köstlich amüsiert. Sie habe sich beim Zusehen der Performance auch nicht angestrengt. Was sie anstrenge, sei es, den Text einzuordnen und zu verstehen. Sie frage sich, wo das Ganze anfange, sie habe das Gefühl, der Text beginne bereits im Vorstellungsvideo.

Hier gehe es um ein Nichtentstehen eines Autorenporträts, das sich in einem „Nichtentstehen“ einer Geschichte fortsetze. Das schreibe eine Erzählerin nicht und eine Lyrikerin nicht, sobald etwas passiere gebe es Abbruchsignale, das finde sie großartig, so Kaiser. Im Englischen gebe es den Terminus „Writers writing“, wo Autoren noch einmal neu über das Schreiben angeregt werden. Auch wenn man es nicht so sehe, sei es eine großartige und gelungene Performance von Genschel gewesen, so Kaiser.

Vea Kaiser
ORF
Vea Kaiser

Kastberger: Text oder Performance?

Klaus Kastberger ergriff als nächster das Wort: Man frage sich, ob es ein Text oder eine Performance gewesen sei. Schön sei, dass es aus seiner Sicht, beides sei. Als er den Text zuhause gelesen habe, habe er über Politologie und Bedeutungsebenen nachgedacht. Die Performance des Textes habe für ihn dann eine unmittelbare Zugänglichkeit geschaffen. Kastberger meint, er fände es spannend und überraschend, wie der Text vorgetragen wurde und wie er im Vortrag zu einer unmittelbaren Wirkung gekommen sei. Wo man anfangen solle, bei der Performance oder beim Text, wisse er nicht, das wäre zu diskutieren. Der Text sei jedenfalls ein Vergnügen gewesen und habe laut Kastberger die Jury wieder aus der Mittagspause herausgerissen.

Klaus Kastberger und Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger mit Mara Delius

Delius fand Performance ablenkend

Mara Delius zeigte sich verwundert, dass die Performance sehr gelobt werde. Diese habe vom Text abgelenkt und auch ebenso davon, wie er versucht habe, verschieden Schriftsteller-Typologien auftauchen zu lassen und wie diese dann gewissermaßen „ironisch vorgeführt und gebrochen werden“. Der Text habe durch die amerikanisierte Sprache der Anfangsfigur den ersten Teil etwas überbetont und den zweiten Teil etwas zurücktreten lassen. Dieser Teil sei jedoch viel interessanter gewesen – vor allem die Spiegelung der Figur der Autorin selbst und das Spielen mit dem Klischee der Lyrikerin. Dies fand sie in dem Text stärker herausgearbeitet, als es in der Performance rübergekommen sei.

Lob für Sprachfärbung

Auch Brigitte Schwens-Harrant habe die Performance nicht so überzeugt. Sie hätte auch den Eindruck gehabt, es sei zu langsam gewesen. Spannend sei, dass durch die Sprachfärbung versucht worden sei, der Figur eine weitere Nuance zu geben, nämlich die Amerikanische. Sie habe das Gefühl, es wechsle zu oft, es gebe teilweise sehr behäbige Sätze und Sprache und dann wieder kurze „Slangs“. Das sei für sie auch durch die Performance nicht besser geworden.

Michael Wiederstein
ORF/Johannes Puch
Michael Wiederstein

Wiederstein mit Fehler in der Matrix

Michael Wiederstein meinte, man habe es mit einem Stunt und nicht nur einer Performance und einem Text zu tun. Am Anfang habe er ein bisschen an „einen Fehler in der Matrix geglaubt“, als er die Performance und den Ton gehört habe. Die xxx im Text seien durch Genschels Performance ausgefüllt worden. Damit mache sich der Text eindeutig zu einem „Klagenfurt-Text“. Wenn man das verstanden habe, finde man im Text viele unzusammenhängende Topoi, beispielsweise klassische Sachen wie eine Kinderzeichnung.

Mit der Performance gehe es im Text auch um etwas ganz Aktuelles, nämlich Identitätspolitik, kulturelle oder geschlechtliche Aneignung. Wiederstein behauptete jedoch auch, man könne es noch sehr viel besser machen. Der Ärger sei, man sei jetzt in diesem Schauspiel drinnen, es sei aber kein besonders kunstvolles Schauspiel, es bleibe ein Stunt.

Wilke verteidigte ihre Wahl

Insa Wilke gab Vea Kaiser recht, die Geschichte beginne schon vor dem Text und man sei auch in der Diskussion jetzt noch mitten drinnen. Sie erinnerte sich an den Februar zurück, als es die Texte auszuwählen galt. Zu dieser Zeit habe gerade der Ukraine-Krieg begonnen, was sie in ihre Auswahl einfließen lassen habe. Diesen Text habe Wilke ausgewählt, weil sie froh gewesen sei, einen Text zu haben, der sich der Botschaft verweigere.

Insa Wilke Juryvorsitzende
ORF
Insa Wilke

Sie sei selten so in schallendes Gelächter ausgebrochen, wie bei diesem Text von Mara Genschel. Darüber hinaus sei der Text auch sehr genau gearbeitet, er komme von ganz woanders her als die Texte, die man sonst in Klagenfurt habe. Laut Wilke sei es kein Text, indem es auf der Ebene um das Gefühl gehe und den Ausdruck eines Individuums gehe. Es gehe um den Versuch, durch die Arbeit mit Zeichen und Zeichenzusammenhängen, in ein Gespräch zu kommen. Es mache ihr unglaublich Spaß, dieses Spiel mitzuspielen.

Kastberger amüsierte sich

Klaus Kastberger irritierte die Angst, Teil des Spiels zu sein. Es sei nicht der erste Text, der „quasi eine Klagenfurt-Referenz auf sich selber setzt“. Durch die Nennung der Bachmannpreis-Mitbewerberinnen bekomme der Text eine andere Dimension. Der Text setze sich in Konkurrenz zu seinen Konkurrenten, er prognostiziere auch, dass es lyrische Texte geben werde. Der Text mache sich zu einem Teil des Ganzen, was dieser Tage in Klagenfurt passiere. Die Strategie, den Bachmann-Preis selbst zum Thema zu machen, sei eine sehr erfolgreiche Strategie.

Jene Texte hätten eine große Chance, hier zu gewinnen. Kastberger sagte, er habe das Gefühl, dass der Text zum Ende hin zu lang werde. Bislang sei es aber der lustigste Text gewesen, das zeigte sich auch an der Reaktion des Publikums, bis auf Philipp Tingler hätten sich alle köstlich amüsiert, so Kastberger.

TddL 2022 Genschel zu Tingler bei Jury-Diskussion

Schlagabtausch zwischen Autorin und Philipp Tingler

Insa Wilke sprach dann auch noch Mara Genschel selbst an, ob sie etwas sagen wolle, weil sie unruhig wirke. Wilke sagte, sie finde es super interessant, dass Philipp Tingler die Performance nicht gut fand.

Genschel antwortete, sie habe nie behauptet, dass es eine Performance sei. „Das sagen doch Sie“, so Genschel an Tingler. Das sage er aber nicht allein, sondern alle Mitglieder der Jury, so Tingler. „Es sei nichts anderes als ein Style, ich habe nichts anderes gemacht, als mich schick zu machen und zu lesen“, erwiderte Genschel unter Applaus des Publikums. Tingler fragte sich, warum Genschel ihn anspreche, wahrscheinlich, weil er das albern finde. Schlusswort von Tingler: „Ich habe jetzt keine Lust mehr“.