Alexandru Bulucz las am Nachmittag den Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“. Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit in einem Land weiter östlich, vermutlich Rumänien. Er trifft sich mit einem unerklärten Gegenüber zum Kaffee und will einen Spruch seines Vaters interpretieren, der lautet „Gott ist kein Zigeuner, aber auch kein Eisenbahner“, den er nie so richtig verstanden hatte.

Jury wohlwollend über Bulucz-Text
Mara Delius sagte, für sie sei der Text ein sehr gutes Beispiel dafür, wie besonders und sprachgenau ein Autor arbeite, dessen Muttersprache nicht Deutsch sei. Es sei ein Text, der sprachlich und literarisch bisher am interessantesten sei. Es gebe starke Bilder, wie das verballustrierte Treppenhaus, die Delius großartig fand. Viel wichtiger sei aber, wie der Text das Thema Heimat bzw. Heimatlosigkeit verhandle. Vea Kaiser schloss sich an, sie habe auch vom Vortrag des Autors profitiert, „weil er genau dem, worum es geht Struktur gibt, nämlich dem Mäandern von Gedanken“, so Kaiser. Das sei die einzige Möglichkeit in Bewegung zu bleiben, in einem Moment des Stillstands durch Trauer und Schmerz.

Klaus Kastberger meinte, es sei ein Text, der auf den ersten Blick sehr kompliziert aussehe, dass man sich frage, worum gehe es eigentlich, was halte die Geschichte zusammen. Der Text habe für Kastberger auch deshalb Qualität, weil er prinzipielle Annahmen über das was Heimat sei, was Wirkungsweise von Geschichte sei in ihren Grundlagen in Frage stelle.
Bei aller Lyrik sollte man laut Philipp Tingler nicht übersehen, dass es im Text einen „feinen Hauch von Konventionalität“ gebe. Beispielsweise wenn angemerkt werde, dass der Mensch immer das Produkt sozialer Umstände sei, das sei für Tingler eine hochgradig problematische Auffassung, die aber nicht als problematisch dargestellt werde.
Ein Vater wird geboren
Andreas Moster wurde von Vea Kaiser nominiert, er beschloss den ersten Lesetag mit dem Text „Der Silberriese“. Die Geschichte eines Spitzensportlers, eines Diksuswerfers, der von seiner Freundin mit einem Baby allein gelassen wird und mit der Situation hadert. Das Kind behindert seine Sportkarriere, gefährdet die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Außerdem kennt er sich mit Babys überhaupt nicht aus. Aus dem Konflikt wird eine Annäherung und schließlich eine große Vaterliebe. Auf die Karriere verzichtet er schließlich und es macht ihm nichts mehr aus.

Lob für Abschluss des Lesetages
Insa Wilke machte den Anfang. Man rede viel zu wenig über die vergleichende Perspektive der Texte. Es sei eine „schöne Fügung“, dass Mosters Text am Ende des ersten Lesetages stand, weil er in gewisser Weise komplementär zu dem von Eva Sichelschmidt verstanden werden könne. Bei Mosters Text habe man eine Geburt, das Zusammensetzen eines Lebens durch den Neuankömmling. Man habe es auch mit einer komplett „unaufgeladenen, alltagsnahen Prosa“ zu tun.
Mara Delius fand es interessant, dass Wilke Mosters Text überhaupt in die Nähe zu Sichelschmidts Text gebracht habe. Bei Sichelschmidt habe es mit einem formal sehr avancierten Stück zu tun. Das sei bei Moster nicht eindeutig erkennbar.
Philipp Tingler sagte, die Unbeschriebenheit des Kindes habe ihn beim Lesen etwas konsterniert. Daraus leite er ab, dass er den Text anders gelesen habe als Insa Wilke, eben weil er finde, dass der Text nicht schwepunktmäßig auf den Beziehungsebenen spiele, sondern in der „Auseinandersetzung der Hauptfigur mit sich selbst“.
„Das ist an den Haaren herbeigezogen. Ich glaub dem Text kein Wort“, schimpfte Klaus Kastberger und geriet sich mit Vea Kaiser darüber in die Haare, wusste sich aber in der Kritik an dem Text ausnahmsweise einmal einig mit Philipp Tingler.
Uneinige Jury am Vormittag
Der erste Autor des ersten Lesetages war Hannes Stein, der von Vea Kaiser eingeladen wurde. Er las den Text „Die königliche Republik“. Stein trug eine Kappe mit dem Slogan „Slava Ukraini – Glory to Ukraine“ als Statement. Der Ich-Erzähler im Text war vor gut einem halben Jahrhundert Professor an der Hudson University, bis er nach einem Skandal entlassen wurde.
An der Universität forschte er über die polnisch-litauische Geschichte und publizierte ein Buch namens „die königliche Republik“. Heute ist der Ich-Erzähler ein alter Mann, der glaubt von den „Mächten der Finsternis“ beobachtet zu werden und dass ihm die polnisch-litauische Union aus einer anderen Dimension Geheimbotschaften zukommen lässt.

„Parodie auf Diskurselement“
Mara Delius lobte, der Text sei ruhig und präzise gelesen, das habe sie beeindruckt, ebenso, wie der Text die nicht Eindeutigkeiten von Identitäten erzähle. Die Erzählung besteche durch das schräge Thema. Insa Wilke meinte, es sei ein Spiel und eine Parodie auf Diskurselemente. Die Arbeit mit Stereotypen und Klischees finde sie nicht so interessant. „Ich lese den Text aber auch anders. Wenn man das wegnimmt habe man eine Figur mit Leidenschaft, die einsam in der Welt steht, sie schafft sich Freunde mit den Geheimbotschaften. Hannes Stein hat eine Narrenfigur erfunden, die scheinbar verwirrt ist, aber eigentlich der verwirrten Welt einen Spiegel vorhält."

Kastberger mag das Skurrile
Klaus Kastberger sage, er sei Österreicher und liebe das Kauzige, Abgehobene, Schräge, Seltsame und Skurrile. "Das Tolle an diesen abgehobenen Typen ist, das, was Sie schreiben ist doch mit der Gegenwart verbunden. Der Text hat einen starken Bezug auf Gegenwart, aber nie wie in einer realistischen Erzählung. Warum sagt dieser Hannes Tein die ganze Zeit, dass es ein junger Schwarzer ist – damit es jeder Depp versteht, dass hier ein alter weißer Deutscher Jude in seine Haut schlüpft.“
Brigitte Schwens-Harrant meinte, spürbar sei in der Geschichtsebene die Suche nach der Utopie eines goldenen Zeitalters, das sei sehr vertraut. Spannend finde sie, wie Zeichen eingebaut seien. Die Einschübe von Information, die der Leser brauche, sei aber fast zuviel. Das seien Brüche in der Erzählebene.
Tingler: Kauzig als Alarmsignal
Philipp Tingler war nicht amüsiert. Für ihn sei „kauzig“ als Eigenschaft eines Textes ein Alarmsignal. Er finde den Text ältlich und betulich. Der ganze Text erwecke den Eindruck eines scherzenden, ältlichen Verwandten mit vernünftigen Schuhwerk auf einer Familienfeier, der eine Geschichte erzählt, die man nicht hören will. „Ein Text wie aus den 70er Jahren in eine Zeitkapsel gesteckt.“ Diese Aussage führte zur Kritik von Klaus Kastberger – mehr dazu in Jurydiskussion Hannes Stein, USA.

Text über das Abschiednehmen
Nach Hannes Stein folgte Eva Sichelschmidt – eingeladen von Mara Delius. Sie las den Text Der Körper meiner Großmutter über das Sterben. Eine 103-jährige Frau steht kurz vor ihrem Tod. Die Enkelin lässt die Jahre mit der Großmutter an sich vorbeiziehen, den Unwillen der alten Frau, sich selbst als alt zu sehen, der Körper, der versagt und sie brüskiert.
Sie zog Kinder, Enkel und Urenkel auf, immer im Dienst der anderen, immer diszipliniert und sicherer Hafen. Die Enkelin kommt mit dem Gedanken des Sterbens nicht zurecht, besucht die Großmutter in deren Wohnung ein letztes Mal. Sie wollte nicht ins Heim, Verwandte und eine Pflegerin versorgen sie. Der Körper vom Alter gezeichnet, es ist nicht mehr die Frau, die die Erzählerin kannte, und ist es immer noch.
Keine Übereinstimmung der Jury
Vea Kaiser ergriff zuerst das Wort, sie befand den Text als sehr wichtig, da er sich auf ein schwieriges Thema bezog, nämlich das Sterben. Sterben habe in der Öffentlichkeit keinen Platz mehr und passiert immer mehr im Privaten. Es sei die Aufgabe der Literatur, das, was man verdrängen wolle, in seiner ganzen Bandbreite zu thematisieren. Eben auch den alternden, kranken Frauenkörper.
Klaus Kastberger wies darauf hin, dass der Text von Eva Sichelschmidt der extreme Gegenpart zu dem Text von Hannes Stein sei. Er sei schnörkellos, habe eine „absolute Konzentration“. Das Formale sei sehr auffällig, beim Mitlesen des Textes sogar noch mehr, als wenn man ihn nicht zur Hand hätte. Es sei ein Text, „der in extremer Weise auf den einzelnen Satz abstellt“, so Kastberger.
Insa Wilke schloss sich Kastberger an, was das Radikale bzw. riskante Verfahren anbelangt. Ansonsten widersprach sie ihrem Vorredner. Wilka fand, dass es zwischen Sichelschmidts Text und Steins Texte einige formale Parallelen gab, weil sie verschiedene Ebenen in ihren Texten einbauen würden.
Michael Wiederstein sagte, er hatte während des Lesens den Eindruck, dass der Text und die Person, die beschrieben werde, seltsam hohl klingem. Der Text beschreibe permanent eine Person von außen, die Großmutter. Trotzdem habe man am Ende kein konzises Bild von der Person und von der Beziehung der Enkelin zur Großmutter – mehr dazu in Jurydiskussion Eva Sichelschmidt, D. Phlipp Tingler und Mara Delius waren vom Text angetan. Das literarische Moment mit der Verbindung von Dinglichkeit und Transzendenz auf der anderen Seite fand Tingler „sehr groß“.
Vom Werden eines Schauspielers
Auf Sichelschmidt folgte Leon Engler, eingeladen von Philipp Tingler. Er las den Text „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“. Es geht in dem Text um einen nicht sehr erfolgreichen Schauspieler auf dem Weg zu einem Fotoshooting in einer Provinzstadt. Ihn verfolgen seit Jahren Gedanken an die Kritik seines Schauspiellehrers Hendrik, die Diskrepanz zwischen dem Menschen, der er ist und dem, den er spielt. Das Shooting gelingt wider Erwartung gut.

Auf der Rückreise im Zug trifft er den Schauspiellehrer nach Jahren wieder, man gibt an mit Erlebnissen, bekannten Menschen und Orten, die bei beiden nicht der Wahrheit entsprechen, zwei Schauspieler performen ein Wiedersehen. Als Hendrik einschläft, nimmt der Ich-Erzähler ihm die grüne Brille ab und sieht somit durch seine Augen. Dadurch nimmt er die Welt anderes wahr und schüttelt etwas von der Düsternis seiner Gedanken ab. Er erinnert sich wieder, warum er Schauspieler werden wollte – um menschliche Komödie zu spielen.

Text zwischen „großartig“ und Karl Marx
Insa Wilke sagte, es ein sehr simpler Text mit einer klaren Struktur. Es gebe eine Entwicklung der Figur, den jungen selbstmitleidigen Mann. Es gebe jedoch eine unzuverlässige Erzählinstanz, so Wilke. Der Text sei die „Rache des Philipp Tingler an der Jury“ für das letzte Jahre, weil er dazu zwinge, über Transzendenz zu reden.
Laut Michael Wiederstein ist der Text ein „Sagen-wir-mal“-Text. Er hatte zwischendurch den Eindruck, „dass die Sonnenbrillenmanufaktor Ray Ban einen Versuch gestartet hat, Karl Marx neu zu erklären“.
Vea Kaiser meinte, die Qualität des Textes sei, dass er unendlich deprimierend sei. Der Schauspieler werde auf ein Stück Fleisch reduziert, das nicht einmal eine eigene Überzeugung habe, wie man zu leben habe, sondern sich Sätze, die er in seiner Ausbildung gehört habe, immer wieder vorkauen müsse.
Philipp Tingler sagte, für ihn sei der Text u.a. großartig, weil man ihn einfach so lesen könne, ohne dass man wiessse, wie viel im Hintergrund spiele. „Und es ist viel, das im Hintergrund spielt“ – mehr dazu in Jurydiskussion Leon Engler, D/A.
Neue Preisermittlung
Die Lesungen laufen Donnerstag und Freitag von 10.00 bis 12.00 Uhr und nach einer Mittagspause weiter um 13.30 und 14.30. Am Samstag wird von 10.00 bis 13.30 gelesen. Die Preisermittlung läuft in diesem Jahr anders ab, die Jury wählt ihre Preisträger ohne Öffentlichkeit am Samstagabend, am Sonntag wird das Ergebnis verkündet. Kommt es allerdings zu einer Stichwahl, erfolgt diese live am Sonntag.

Die Lesungen und Diskussionen werden live und on demand auf bachmannpreis.ORF.at sowie der tvthek.ORF.at übertragen. 3sat übertragt im TV ebenfalls live – mehr dazu in TddL in Radio, TV, Internet und Social Media.