Leonhard Hieronymi
ZDF/SRF/ORF/3sat
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TEXT Leonhard Hieronymi, D

Leonhard Hieronymi liest auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Über uns, Luzifer“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Nach der Begegnung mit dem Friedhofsverwalter von Bad Oldesloe besuchte ich für den Rest des Jahres keinen Friedhof mehr, erst im Januar kamen die Energieschübe zurück, und ich verabredete mich für die Zeit der südosteuropäischen Schneestürme mit Marius, der schon mit mir in Hamburg-Nienstedten an den Gräbern von Fichte und Jahnn gestanden hatte, und mit Pascal – einem der wichtigsten Beobachter unseres Landes – in Bukarest. Von dort aus wollten wir uns endlich auf die Spuren des Grabs von Ovid begeben.

Wir fuhren mit dem Zug aus Bukarest kommend über die verschneite Baragan Steppe Richtung Konstanza. Was hier vor sich gegangen war, erschien uns schleierhaft: noch nie hatten wir von Mircea dem Älteren gehört, wussten nichts über die Prinzessin Chiajna und Peter mit dem Ohrring, und hatten auch noch nie etwas von Mihnea dem Schlechten und Constantin Brancoveanu gelesen. Und doch hatten alle hier gewütet, sich gegenseitig in Stücke gehauen im Kampf um die religiöse Vorherrschaft in Europa. Wir stellten uns die Opfer vor, gepfählt und zerstampft, die rote Sonne, typisch, wie sie aufging nach verlustreichen Schlachten in der Walachei, und wir dachten an die Elefanten in den transsilvanischen Hügeln von Schäßburg.

Von einer uns in der gestrigen Nacht selbst zugefügten Vergiftung noch nicht vollkommen wiederhergestellt, sprachen wir auch über unseren schlechten Schlaf, die langen Weihnachtsferien, über goldene Bücher und die Europäische Union. Denn als wir vor einer halben Stunde Bukarest verlassen hatten, galt die Aufmerksamkeit dort nur Juncker und Tusk und der ersten EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens, die man heute Abend einläuten würde – und natürlich redeten auch alle über die Risiken, die das bedeutete; richtig wohl fühlten sich in ihren Rollen weder Außenstehende noch Beteiligte.

Aber jetzt saßen wir uns gegenüber, in dicke Wintermäntel gehüllt und waren auf dem Weg zum Schwarzen Meer. Pascals goldener Zahn leuchtete im Licht des vor den Fenstern taumelnden Schnees. Marius hatte eine Plastiktüte in seinem Schoß liegen, darin befand sich eine Flasche Rotwein der Marke Lacrima lui Ovidiu – Träne des Ovid.

Der Zug fuhr durch eine von Donauausläufern überschwemmte Sumpflandschaft. Wir sahen schwarze Zugwracks im weißen Schnee.
„Oh Gott, oh Gott“, sagte Pascal, und nahm damit zum ersten Mal an diesem frühen Vormittag Worte in den Mund, die schon vorhersagten, dass diese Reise für uns zur seelischen Höllenfahrt werden würde.