Eva Sichelschmidt
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Eva Sichelschmidt, D

Eva Sichelschmidt liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Der Körper meine Großmutter“. Es geht um Abschied und Loslassen anlässlich des bevorstehenden Todes. Die Enkelin als Ich-Erzählerin lässt die Jahre mit der Großmutter an sich vorbeiziehen und schildert den Verfall einer geliebten Person.

Mit 103-Jahren stirbt die Großmutter der Erzählerin. Sie lässt die Jahre mit ihrer Großmutter an sich vorbeiziehen. das Alter, der Körper, der versagt und weswegen sie Hilfe benötigt. Die Enklein kommt mit dem Gedanken des Sterbens nicht zurecht, besucht die Großmutter in deren Wohnung ein letztes Mal. Der Körper vom Alter gezeichnet, ist sie nicht mehr die Frau, die die Enkelin kannte, und ist es doch immer noch.

Das wichtige Thema des Sterbens

Vea Kaiser ergriff zu erst das Wort, sie befand den Text als sehr wichtig, da er sich auf ein schwieriges Thema bezog, nämlich das Sterben. Sterben habe in der Öffentlichkeit keinen Platz mehr und passiert immer mehr im Privaten. Es sei die Aufgabe der Literatur, das, was man verdrängen wolle, in seiner ganzen Bandbreite zu thematisieren. Eben auch den alternden, kranken Frauenkörper.

Kaiser fand es sehr gelungen, wie kleine Anekdoten eingeflochten wurden, die „die sterbende Person zu einem Menschen machen“. Mit manchen Anekdoten konnte Kaiser mehr anfangen als mit anderen, manche waren zu unreflektiert.

Juroren Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Vea Kaiser

Extremer Gegenpart zu Steins Text

Klaus Kastberger wies darauf hin, dass der Text von Eva Sichelschmidt der extreme Gegenpart zu dem Text von Hannes Stein sei. Er sei schnörkellos, habe eine „absolute Konzentration“. Das Formale sei sehr auffällig, beim Mitlesen des Textes sogar noch mehr, als wenn man ihn nicht zur Hand hätte. Es sei ein Text, „der in extremer Weise auf den einzelnen Satz abstellt“, so Kastberger. Die einzelnen Sätze werden selbst zu einer lebenden Einheit. Diese beschreiben den Tod der Großmutter, das sei offenkundig.

Kastberger sagte, es sei wichtig, sich dieses formale Gerüst vor Augen zu halten. Anekdoten habe er keine gesehen, da er die strenge Form im Vordergrund hatte. Es sei eine von außen gesteuerte Beobachtung der sterbenden Großmutter, knapp vor Ende stirbt sie dann wirklich. Der Körper, der im ganzen Leben nie so präsent gewesen sei, werde präsent. „Es ist fast wie eine Beschwörung dieser körperliche Präsenz, in dem Augenblick in der sie aufhört“, so Kastberger. Das sei sehr spannend, es gebe viele Emotionen, die aber eher im Nachhinein entstehen.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Sehr interessant sei es ebenso, wie der Text auf eines der Hauptthemen der Literatur, nämlich den Tod, herangehe. Er sei sehr radikal und zeige, dass auch radikale Texte nicht unverständlich sein müssen. Von der Länge her fand Kastberger „gerade noch erträglich“.

„Es geht auch um Beziehung“

Insa Wilke schloss sich Kastberger an, was das Radikale bzw. riskante Verfahren anbelangt. Ansonsten widersprach sie ihrem Vorredner. Wilke fand, dass es zwischen Sichelschmidts Text und Steins Texte einige formale Parallelen gebe, weil sie verschiedene Ebenen in ihren Texten einbauen würden. Sichelschmidts Text sage, was er tue, er versuche, die Teile zusammenzusetzen. Es gehe nicht nur um das Sterben der Großmutter, sondern auch um die Beziehung der Enkelin zu der Großmutter. Es gehe aber auch um die Beziehung des Ichs zu den anderen.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Es gebe mehre Stimmen: Das Ich, das über sich spreche, es gebe das Ich, das über die Großmutter spreche, es gebe die Großmutter, die spreche und es gebe die anderen, die sprechen, so Wilke. Das hieße, es gehe nicht nur um das Sterben, sondern auch um das Danach, den Zustand, den Raum, der danach entstehe, indem man versuche, aus Erinnerungssplittern etwas zusammenzustellen. Eine Person, die nicht mehr da sei, sich aber auch einer Beziehung anzunähern, die fragwürdig, vielleicht auch befragbar werde, so Wilke.

Es sei eine weibliche Generationenfolge, die erzählt werde, mitsamt derer Komplexität. Wilke sah die Riskantheit des Verfahrens, es gehe aber nicht ganz auf, weil die Aufgabe sei, einen Körper durch die fragmentartige Erzählweise wiederzugewinnen. Für Wilke sei das nicht gelungen, der Körper fehle im Text.

Wiederstein: Seltsam hohl

Michael Wiederstein sagte, er hatte während des Lesens den Eindruck, dass der Text und die Person, die beschrieben werde, seltsam hohl klingen. Der Text beschreibe permanent eine Person von außen, die Großmutter. Trotzdem habe man am Ende, kein konzises Bild von der Person selbst und von der Beziehung der Enkelin zur Großmutter. „Das fehlt ein bisschen, das bleibt offen“, so Wiederstein. Das könne aber auch Methode sein, dann würden „die eigenartigen, kalenderspruchartigen Metaphern, die immer wieder verwendet werden“. Am Ende sei der Text kein Liebesbeweis und auch kein Trauertext, sondern ein seltsam hohles Konstrukt, konstatierte Wiederstein.

Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Michael Wiederstein

„Keine Melange, die gut schmeckt, wie bei Hannes Stein, sondern sie stößt auf, weil sie vielleicht funktioniert“.

Formale Kritik an Grammatik

Brigitte Schwens-Harrant dockte an dem Begriff der Hohlheit an. Sie brachte ein sprachliches Problem vor. Das Thema rühre einen, man kenne die Sätze. Formal fand Schwens-Harrant interessant, dass Sichelschmidt die letzten Sätze in Klammer setzte. Trotzdem störte sie auf der Sprachebene, dass die Autorin viele Substantive und Genitiv-Konstruktionen verwendete. Schwens-Harrant sage, es führe dazu, dass sie nicht so beeindruckt von dem Text gewesen sei, sondern gefühlt hätte, dass eine Leere aufgekommen sei. Substantive würden etwas behaupten, Sätze, die mit Verben funktioniere, würden gleich etwas anderes erzählen und die Beziehungsebene glaubwürdiger erscheinen lassen, so Schwens-Harrant.

Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Tingler sieht Körper als wichtiges Motiv

Philipp Tingler kam in seinen Ausführungen auf den Körper zurück. Ihm erschien er extrem wichtig als Motiv, er sei auch im Titel der Geschichte. Wenig überraschend habe er, anders als Klaus Kastberger, nicht so wahrgenommen, dass der Körper die ganze Zeit abwesend sei. Der Körper der Großmutter sei die ganze Zeit sehr präsent, nicht erst im Augenblick des Todes. Die Autorin begleite den Körper durch den Lauf der Zeit, erzählt von den Händen und wie sie im Laufe der Zeit zärtlicher werden. Tingler fand die Geschichte „wirklich sehr gelungen“, es sei großartig, wie Sichelschmidt den Körper in seiner Materialität und Dinglichkeit mit den tatsächlichen Dingen verbinde, „mit der Inventarliste, die die Großmutter anfertigt, mit der Resilienz der Dinge, die übrig bleiben, im Vergleich zum Körper“.

Das literarische Moment mit der Verbindung von Dinglichkeit und Transzendenz auf der anderen Seite fand Tingler „sehr groß“. Er war froh, dass es kein Trauertext sei, die Unsentimentalität sei ein großes Plus.

Delius vom Text angetan

Mara Delius schloss daran an. Für sie war es nicht einfach, über den Text zu sprechen, auf der anderen Seite aber doch. Es sei zum einen kein Text über den Tod oder das Sterben alleine. Es gehe auch sehr stark um eine Form des Weiterlebens und wie Weiterleben in der Wahrnehmung funktioniert. Das formale Gerüst sei sehr entscheidend. Für Delius steht permanent die Frage im Raum, wo gehe alles dahin, das einmal ein Leben gewesen sei. Auf einer anderen Ebene habe sie beeindruckt, wie in den Details der verschiedenen Dinge, bestimmte Szenen und Stimmungen einer Bundesrepublik vorkommen, ohne dass sie konkret auserzählt werden. Auf einer dritten Ebene fand Delius spannend, wie in der unsentimentalen Schilderung eine Form von Zeitlichkeit hinterfragt werde. Für Delius war der Text ein gelungenes Beispiel für autofiktionales Schreiben.