Lesung Eva Sichelschmidt D
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TEXT Eva Sichelschmidt, D

Eva Sichelschmidt liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Der Körper meiner Großmutter“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf.

Den Körper meiner Großmutter hat man verbrannt.

Eben saß ich noch neben ihr, in ihrem kleinen Esszimmer, an dem großen Tisch, und versuchte mir einzuprägen, wie sie aussah, um sie nie zu vergessen.

Ihr Gesicht, ihre Bewegungen, ihre Gestalt.

Willst du sie nochmal sehen, dann musst du jetzt kommen.
Ein Zögern. War nicht alles gesagt? Die Frage der Feigheit.
Jemand riet: Fahr! Sonst verzeihst du‘s dir nie.
Noch im Zug, kurz vor der Ankunft ein Anruf.
Erschrick nicht, wenn du sie siehst.

Ein Geistergesicht: fahle Haut, eingefallene Wangen, hohe Stirn.
Leib und Beine aufgedunsen vom Wasser.
Der Augenaufschlag in Slow Motion.
(Jetzt hab ich gar keinen Kuchen für dich.)

Ein bläulicher Streifen lag quer über ihren Brauen und führte von der Mitte der Stirn über den Nasenrücken – wie der Buchstabe T.
(Erledigt. Ich bin total erledigt.)

Bekleidet mit Bluse und Jäckchen, ordentlich frisiert.
Vor ihr die Tageszeitung. Nicht einmal die Überschriften konnte sie noch lesen. Vom Brustbein abwärts sammelte sich das Wasser. Ihr Bauch prall und unterm Rocksaum, die Knie dick angeschwollen, wie Bälle. Die Unterschenkel, einst gertenschlank, jetzt mächtig und braun bandagiert.

Im Sitzen kämpfte sie gegen den Sekundenschlaf und wohl auch gegen den großen, finalen. Mitten im Satz schlossen sich ihre Augen, das Kinn senkte sich langsam zur Brust.
(Du hättest warten sollen, bis es mir besser…)
Dann wurde der Kopf noch einmal schwerer, es folgte ein Nicken, ein Ruck durchfuhr sie, und sie war wieder wach.
Brust raus, Bauch rein, das war die Devise.
Selbstbeherrschung, in dieser Disziplin war sie unschlagbar.

Den Körper meiner Großmutter habe ich nicht gekannt.

Man kennt die Körper seiner Liebhaber und die der eigenen Kinder. Die Eltern sah man, selbst noch Kind, unbekleidet, doch das Alter verhüllt sich.
Meine Großmutter hielt sich zeitlebens bedeckt.

Erst die Hinfälligkeit an ihrem Lebensende machte sie nackt.
Es blieb ihr nichts übrig, als die Scham abzuwerfen, wie eine unnütze Rüstung.
Nun waren es die Nächsten, die sie versorgten.
Was heißt denn hier pflegen? Man muss mich nicht pflegen. Ich komme allein zurecht!

Warum denn kein Heim? fragten Leute, die sie schlecht kannten.
Die Wohnung, die sie nicht mehr verließ, war zu einem Teil ihres Körpers geworden.

Die Eigenständigkeit trug sie auf ihrem Rücken, wie die Schnecke das Haus.
„Nun kann es jeden Tag so weit sein“, sagte die Palliativschwester – wie die Hebamme damals, beim Warten aufs Kind.

Immer sind es Fremde, die den Anfang und das Ende ankündigen, wie sollte es anders sein. Geben und Nehmen, Geburt und Tod, ein duales System vom Krankenhauspersonal kontrolliert.

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