Lesung Hannes Stein USA
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Jurydiskussion Hannes Stein, USA

Hannes Stein liest auf Einladung von Vea Kaiser „Die königliche Republik“. Der in New York lebende Deutsche erzählt die Geschichte eines ehemaligen Professors, der glaubt, Geheimbotschaften von der polnisch-litauische Union zu bekommen. Die Jury begann gleich konfliktfreudig zu diskutieren.

Der Ich-Erzähler war vor gut einem halben Jahrhundert Professor an der Hudson University, bis er nach einem Skandal entlassen wurde. An der Universität forschte er über die polnisch-litauische Geschichte und publizierte ein Buch namens „die königliche Republik“. Heute ist der Ich-Erzähler ein alter Mann, der glaubt von den „Mächten der Finsternis“ beobachtet zu werden und dass ihm die polnisch-litauische Union aus einer anderen Dimension Geheimbotschaften zukommen lässt.

Lesung Hannes Stein USA
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Lesung Hannes Stein

Nachdem er eine Botschaft entschlüsselt hatte, geht er eines Nachts zu der Reiterstatue von Władysław II. Jagiello im Central Park. Dort wird er von einem Dieb niedergeschlagen und ausgeraubt. Nachdem er anfängt, die ihm verschriebenen Medikamente zu nehmen, erhält er plötzlich keine Anweisungen der polnisch-litauischen Union mehr.

Delius: Ruhig und präzise

Mara Delius leitete die Jurydiskussion ein. Stein habe beeindruckend ruhig und präzise gelesen, am Text habe sie die Form beeindruckt, wie er von der Nichteindeutigkeit von Ideologien erzählt. Ein Schwarzer Professor wird „gecancelled“, weil er angeblich den Kolonialismus schöngeredet hatte, was er tatsächlich aber gar nicht tat. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für ein Land zu betreiben, das vorwiegend von weißen Europäern bewohnt wird. Die polnisch-litauische Union war aber sein Forschungsfeld und seine Herzensangelegenheit, im Grund eine Utopie, die er aufbauen will und dabei verrückt wird.

Für Delius besticht die Geschichte durch ihre Schrägheit und nicht so sehr durch die Literarisierung durch den Autor. „Weniger diplomatischer könnte man sagen, es ist ein Text, bei denen alle vorhandenen inhaltlichen, formalen und erzählerischen Anlagen dann doch irgendwie schlingern“, so Delius. Der Text könne sich selbst nicht entscheiden, ob er sich formal dem magischen Realismus zugehörig fühle oder aber, ob er doch eher ein „im schillernden Mantel des Realismus daherkommende Thesenroman“ sei, der die Nichteindeutigkeit von Identitäten zeigen wolle.

Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

Wilke: Parodie auf Diskurselemente"

Insa Wilke schloss sich der Ausführungen Delius’ an. Das Spiel und die Parodie auf Diskurselemente sowie die Arbeit mit Stereotypen, Klischees sei die Ebene, die sie an diesem Text nicht so interessant findet. Wilke sagte, sie habe den Text noch einmal anders gelesen. Man habe erstmals eine Figur, die eine Leidenschaft habe und mit der einsam in der Welt stehe. „Sie schafft sich Freunde, Verbündete, die ihr Geheimbotschaften zuspielen“.

Klassischer könnte man sagen, Stein habe eine Narrenfigur erfunden, die scheinbar chaotisch und verwirrt erscheine, aber eigentlich der Welt einen Spiegel vorhalte. Auch Wilke fand die Ausführung an einigen Stellen nicht geglückt. Die Innenperspektive der Figur, die Stein unbedingt brauche für den Text, müsse glaubwürdig ausgeführt werden. Die Figur erzähle eigentlich aus ihrer Innenperspektive, verfalle aber immer in den Botenbericht. „Sie muss z.B. ständig erwähnen, dass sie Schwarz ist, was eigentlich eine Figur nicht erwähnen würde“, so Wilke. Es gäbe dramaturgische Ungenauigkeiten, die den Text sehr schwächen, so Wilke.

Mara Delius griff dies wieder auf. Der Erzählklang des Erzählers sei beeindruckend und konsistent, an jenen Stellen, an denen es um die litauisch-polnische Union gehe. „Umso enttäuschender ist, dass der Erzähler sich selbst immer wieder hervorschieben muss“, so Delius.

Kastberger schätzt das Skurrile

Klaus Kastberger sage, er sei Österreicher und liebe das Kauzige, Abgehobene, Schräge, Seltsame und Skurrile. "Das Tolle an diesen abgehobenen Typen ist, das, was sie schreiben, ist doch mit der Gegenwart verbunden. Der Text hat einen starken Bezug auf Gegenwart, aber nie wie in einer realistischen Erzählung.“

Juror Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Im Text sehe er nichts, was sich an den magischen Realismus erinnert, vielmehr sah er eine Traditionslinie wirken, die auch in der österreichischen Literatur eine große Vergangenheit habe. Kastberger sah in diesem Text viele Bezüge auf die Gegenwart, die aber nie so hergestellt werde, wie er in einem realistischen Erzählen hergestellt werde. „Warum sagt Herr Stein, dass der Erzähler ein Schwarzer ist, na, damit jeder Depp kapiert, dass hier ein älterer, deutscher Jude in die Identität des Erzählers als junger Schwarzer springt.“ Das sei eine weitere Ebene in dieser Identitätsdebatte, Kastberger sieht den Text als etwas, das aus der Jetztzeit geboren ist und viel darüber sagen kann.

„Vertraute Suche nach Utopie“

Brigitte Schwens-Harrant führte ihre eigene Spur in die Diskussion. Etwas, das bei der Geschichtsebene spürbar sei, sei die Suche nach Utopie, das sei sehr vertraut. Das sei politisch in Amerika und bei uns sichtbar. Was noch spannend sei, wie Stein Zeichen einbaut und wie der Mensch aus Zeichen Bedeutungen kreiert. So würden auch Verschwörungstheorien entstehen. Das sei eine sehr spannende Eben in der Geschichte.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Die Einschübe von Informationen, die der Leser brauche, seien zuviel, wie auch Wilke bemerkt hatte. Schwens-Harrant sagte, sie habe das Gefühl, Einiges hätte man über die Geschichte Polens und Litauen auch selbst nachschlagen können. Das seien Brüche in der Erzählebene, „die das Innen stören“. Es sei eine Trauergeschichte im Hintergrund, die Paranoia stoppe dann mit den Medikamenten. Es sei plausibel, dass am Anfang erklärt werde, dass es ein Schwarzer sei. Wo ihr das zu viel geworden sei, sei der Moment, wo er die andere Schwarze Frau beobachte.

Tingler: Gruseliges Warnsignal

Philipp Tingler sagte, er habe Kauzigkeit immer schon als „ein ganz gruseliges Warnsignal zur Kennzeichnung von Texten“ gefunden. Tingler fand den Text eher betulich, Ausdrücke wie Blue Jeans und anno Schnee würden das untermauern. Tingler sagte, er wolle nicht wie ein Depp behandelt werden, indem ein Autor einem immer etwas vor die Nase halte. Der ganze Text erwecke den Eindruck „von einem scherzenden, älteren Verwandten, mit vernünftigem Schuhwerk, der auf irgendeiner Familienfeier eine Geschichte erzählt, die man nicht hören will“. Der Text habe null Gegenwartsbezug, er ist wie aus den 70er-Jahren in eine Zeitkapsel gesteckt.

Tingler meinte, ihm gefalle an dem Text, dass Autoren den Anspruch haben, eine Welt zu bauen und nicht nur Innerlichkeits-Prosa abzuliefern. Die Welt sei aber zu hermetisch geschlossen, sodass man als Leser keinen Zugang bekomme, wie die Innenperspektive sich in einer dystopischen Außenwelt bewegte. „Der Text weiß gar nicht, was er überall sein will“. Diplomatisch ausgedrückt, fand er den Text „wenig interessant“.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

„Der Onkel in Nordic Walking Schuhen“

Michael Wiederstein griff das Bild Tingerls des weit entfernt verwandten Onkels in Nordic Walking Schuhen auf, das passe doch. Der Verschwörungstheoretiker sei bieder. Tingler warf ein, er sehe den Text als bieder, nicht den Erzähler. Die Figur werde nicht glaubwürdig vermittelt, so Tingler. Das Interessante sei, dass der Erzähler eine Figur sei, der man nicht trauen könne, da ihr die ganze Gegenwart verloren gehe, so Wiederstein. Ob er Schwarz sei, wisse man gar nicht, vielleicht sei er gar nicht Schwarz. Der Text sei keine Abbildung der Realität, der Erzähler habe sich seine Gegenwart gebaut, die aus amerikanischen Verschwörungsmythen bestehe.

Es gebe in diesem Text zwei Momente, an denen dem Erzähler die Gegenwart weggebrochen sei: Nach dem Tod seiner Frau und das Ende der akademischen Karriere. Aus normativen Punkten baue sich der Erzähler seine Gegenwart zusammen. Der Text funktioniere, auch formell, aber er hätte viel früher aufhören müssen, So Wiederstein.
An Wiederstein gerichtet stellte Philipp Tingler die Frage, warum Wiederstein dem Erzähler die Sache mit seiner Frau glaube, aber nicht seine Hautfarbe.

Wiederstein antwortete, dass vielleicht auch die Sache mit seiner Frau nicht stimme, aber diese beiden Punkte seien Erklärungsmuster, warum er heute so tickt wie er tickt.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Vea Kaiser mit Philipp Tingler

Kaiser: Der ausgestoßene Mann

Vea Kaiser sagte, sie freue sich sehr über die Diskussion, weil viel Wichtiges verstanden wurde. Der Text habe tatsächlich nichts mit magischem Realismus zu tun, die österreichische Literatur habe eine eigene Tradition, oft etwas Irreales. Wiederstein habe die Geschichte eines Einsamen, des Ausgestoßenen, der das, was rundherum passiere, nicht mehr ertragen könne, gut zusammengefasst. „Der Erzähler flüchtete sich in eine Vorstellung, die ihm hilft weiterzumachen.“ Der ausgestoßene Mann in der deutschen Literatur verfalle normalerweise in Selbstmitleid. Kaiser sagte, sie sei froh, endlich einen Text zu haben, wo ein Gegenentwurf präsentiert wird. Dem Erzähler könne man nicht vertrauen, das mache den Text so stark. Der Text liefert eine Antwort, wie man das Ausgestoßen sein ertragen soll.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Wilke gegen Kaiser

Insa Wilke konnte dem nicht zustimmen. Der Text wolle sehr viel, auch ein Stadtportrait. Das Herz des Textes sei die Figur. Trotzdem finde der Text nicht in einem kontextlosen Raum. Der Autor müsse wissen, dass er den Text in einem bestimmten Debattenraum werde. Die Debatte, die im Hintergrund stehe, sei die Behauptung, es gebe kein historisches Denken mehr, es gebe nur mehr Moral. Darauf beziehe sich der Text, das sei in Wilkes Augen auch seine Schwäche. Ein journalistischer Text arbeite gegen einen literarischen.

Vea Kaiser grätschte in diese These und merkte an, dass Wilke das in den Text hineinlesen wolle. Klaus Kastberger blieb dabei, es sei ein Gegenwartstext, laut Tingler sei der Text aber so banal, dass er nicht sehr literarisch sei. Tingler wolle den Text verstehen, ohne Traditionslinien nachzuschlagen. Das sei ein Armutszeugnis für Kritik, so Kastberger.