Lesung Leon Engler
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TEXT Leon Engler, D/A

Leon Engler liest auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf.

Ich sitze im ICE von Frankfurt nach Karlsruhe und schaue aus dem Fenster und denke Westdeutschland und fühle nichts. Weil offenbar niemand sonst nach Karlsruhe muss an einem Mittwochabend, sitze ich allein im Wagen, jedenfalls sehe ich niemanden in meiner Nähe und fühle mich unbeobachtet und betrachte die Spiegelung meines Gesichts im Zugfenster und spiele mit meiner Mimik, probiere verschiedene Gesichter aus, das könnte alles ich sein, denke ich und ich suche das richtige Lachen, das fällt mir immer noch schwer. Schon an der Schauspielschule hat Hendrik, mein Schauspieldozent, immer gesagt: „Dein Lachen ist nicht echt, du lachst wie eine Möwe, lach doch mal wie ein Mensch, wie ein richtiger Mensch!“ Dabei lachen Möwen eigentlich gar nicht, das habe ich sofort gegoogelt, für den Fall, dass Hendrik mir das nochmal vorwerfen würde, dann hätte ich nämlich gekontert: Hendrik, das, was du für ein Lachen hältst, ist eigentlich ein Warnruf – also ein Warnruf der Möwe –, aber das wäre auch nur wieder eine Steilvorlage gewesen und wahrscheinlich ging es Hendrik nie darum, dass die Fakten stimmen.

Ich scrolle so ein bisschen durch die Fotos und Videos anderer Schauspieler, die gerade auf Filmfestivals sind in Bozen oder auf Kuba drehen, während ich an Darmstadt vorbeifahre und mir denke: Es tut wirklich weh, wenn man nicht bekommt, wovon man glaubt, dass man es verdient. Was Hendrik wohl gerade macht? Irgendwer erzählte, er hätte sich die Schulter beim Skifahren gebrochen, und jetzt, wo ich so darüber nachdenke, muss ich ein bisschen lachen. Na, wie klingt das, Hendrik? Ich will eigentlich kein schadenfroher Mensch sein, aber Hendrik hört mich sowieso nicht, niemand hört mich hier und was ist eigentlich ein Schauspieler ohne Publikum?

Ach, das führt ja zu nichts, sich selbst so runterzuziehen mit alten Geschichten, mit den alten Hendrik-Geschichten. Hendrik macht sich eine gute Zeit, geht Skifahren im April, denn das Leben ist kurz und süß, und ich frage mich fünf Jahre später noch, was ich tun würde, wenn er plötzlich vor mir stünde, ob ich über den Heilungsverlauf von Schulterfrakturen oder das Kommunikationsverhalten von Möwen reden würde, I don’t know. Und die Möwe ist offensichtlich auch eher ein Symbol, aber Entschuldigung, ich verstehe es nicht…

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