Lesung Leon Engler
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Jurydiskussion Leon Engler, D/A

Leon Engler lebt in Bayern und Wien und las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“. Ein erfolgloser Schauspieler ist auf dem Weg zu einem Fotoshooting und findet im Zug zu sich selbst.

Den Ich-Erzähler verfolgen seit Jahren Gedanken an die Kritik seines Schauspiellehrers Hendrik, der ihm attestiert hatte, zu lachen wie eine Möwe, und die Diskrepanz zwischen dem Menschen, der er ist und dem, den er spielt. Das Shooting gelingt wider Erwarten gut. Auf der Rückreise trifft er den Schauspiellehrer wieder, man gibt an mit Erlebnissen, bekannten Menschen und Orten, die bei beiden nicht der Wahrheit entsprechen, zwei Schauspieler performen ein Wiedersehen. Als Hendrik einschläft, nimmt der Ich-Erzähler ihm die grüne Brille ab und sieht somit durch seine Augen. Dadurch nimmt er die Welt anderes wahr und erinnert sich wieder, warum er Schauspieler werden wollte – um menschliche Komödie zu spielen.

Leon Engler hört der Jurydiskussion zu
ORF/Johannes Puch
Leon Engler

„Klare Struktur“

Insa Wilke meldete sich zuerst. Es sei ein sehr simpler Text mit einer klaren Struktur. Es gebe eine Entwicklung der Figur, den jungen selbstmitleidigen Mann. Es gebe jedoch eine unzuverlässige Erzählinstanz, so Wilke. Der Text sei die „Rache des Philipp Tingler an der Jury“ für das letzte Jahre, weil er dazu zwinge, über Transzendenz zu reden. Der Text funktioniere auf der ersten Ebene, weil die Figur großartig sei, die erste Geschichte sei witzig, die Details seien interessant und die gegenwärtige Lifestylegesellschaft werde aufs Korn genommen.

Mara Delius mit Brigitte Schwens Harrant und Insa Wilke
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Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant und Insa Wilke

Der Autor jongliert mit Motiven, wenn man genauer lese, merke man, dass der Text gespickt von Anspielungen ist, wie zum Beispiel auf die Religion. Lustigerweise spreche Gott aus einer Kaffeemaschine und nicht aus einem Dornenbusch, so Wilke. Sie sagte, sie habe auch Bachmann-Zitate aus dem Text herausgelesen. Es gehe auch um die Frage, ob es gut sei, sich zu entgrenzen, oder ob es nicht so ist, dass die Figur im Moment der Verschmelzung keine Widerstandsfigur mehr ist. Wilke zeigte sich beeindruckt, wie der Text eine ganz simple Figur mit einer ganz simplen Struktur erzählen könne, dahinter aber auch zeige, wie Literatur funktionieren könne.

Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Wiederstein, Kaiser, Tingler

„Karl Marx durch Ray Ban erklärt“

Laut Michael Wiederstein ist der Text ein „Sagen-wir-mal“-Text. Er hatte zwischendurch den Eindruck, „dass die Sonnenbrillenmanufaktur Ray Ban einen Versuch gestartet hat, Karl Marx neu zu erklären“. Es gehe permanent darum, ob das Sein das Bewusstsein bestimme oder andersherum. Der Erzähler rede sich permanent selbst groß, im Laufe des Textes merke man aber, er sei das alles nicht. Dadurch, dass sich sein Bewusstsein ändere, verändere sich das Sein aber nicht.

Wiederstein stimmte Wilke zu, er habe den Text tatsächlich auch genossen. Vor allem wegen der Anspielungen darauf, ob man es in der Leistungsgesellschaft geschafft habe, wenn andere glauben, dass man es geschafft habe oder andersherum. Dem Text warf Wiederstein jedoch vor, dass das alles keine neuen Themen seien.

Kaiser: Text „deprimierend“

Vea Kaiser schloss sich Wiederstein an, was die Popkultur angehe. Wilke, beschien sie, leicht sarkastisch, eine hohe kritische Leistung, religiöse und Bachmann-Zitate im Text zu finden. „Kann man machen, sehe ich persönlich aber nicht“, so Kaiser. Die Qualität des Textes sei, dass er unendlich deprimierend sei. Der Schauspieler werde auf ein Stück Fleisch reduziert, das nicht einmal eine eigene Überzeugung habe, wie man zu leben habe, sondern sich Sätze, die er in seiner Ausbildung gehört habe, immer wieder vorkauen müsse.

Kaiser gefiel die schonungslose Offenlegung der Unsicherheit des Protagonisten, der Vortrag habe sie jedoch irritiert, weil er sehr selbstbewusst gewesen sei. Der Text leide für sie jedoch unter einer Beschreibungsarmut, beispielsweise werde ein Wirt mit backblechgroßen Händen oder ein Glatzkopf als Penis beschrieben. Das sei unglücklich, so Kaiser. Diese unoriginelle Figurenbeschreibung passe jedoch wieder zur banalen Figur. Kaiser zeigte sich in Bezug auf den Text unentschlossen.

Wilke anderer Meinung

Insa Wilke sieht die Stellen, die Kaiser als unoriginell beschrieben habe, die tollen Stellen des Textes. Sie habe sofort an Arcimboldo und den Manierismus gedacht. Damit sei die Forderung verbunden, unbedingt einen eigenen Stil zu entwickeln. Das Tolle an dem Texte sei, dass nicht eins zu eins ein Arcimboldo Bild abgemalt werde, sondern man könne zwar die Assoziation haben, müsse aber nicht.

Tingler: „Viel spielt im Hintergrund“

Philipp Tingler sagte, für ihn sei der Text u.a. großartig, weil man ihn einfach so lesen könne, ohne dass man wiessse, wie viel im Hintergrund spiele. „Und es ist viel, das im Hintergrund spielt“. Tingler zeigte sich ein wenig enttäuscht von Wilke, dass sie die Möwe gar nicht erwähnt habe. Diese Möwe mit dem Wunsch des Schauspielerdaseins und dem „trivialisierten Ideal von Künstlertum, Selbstentfaltung“, das Stück von Anton Tschechov sei sehr prominent im Text enthalten. Diese halb-erotische Verkörperung auf jemanden, der das Ideal zu verkörpern scheine.

Die Geschichte funktioniere auch, wenn man sie als Darstellung dieser zerrissenen Psyche zwischen „Dazugehörenwollen“ und „Nichtdazugehörenwollen“ lese. Das sei eine universelle Befindlichkeit, die im Text sehr treffend ausgearbeitet wurde, sodass die Geschichte für sich allein funktioniere. Das wichtigste Wort für Tingler sei „Selbstbewusstsein“ gewesen.

Mara Delius: „Sehr gut erzählt“

Mara Delius ging es bei dem Text anders als der restlichen Jury. Sie habe die verschiedenen Anspielungen beim ersten Lesen nicht so stark als Traditionslinien wahrgenommen. Das habe sie interessanterweise aber auch nicht gestört, was daran gelegen habe, dass der Text sehr gut erzählt sei. Spannender sei aber, dass der Text versuche, eine Stimmung zu variieren.

Schwens-Harrant angetan

Brigitte Schwens-Harrant konstatierte, dass es sich um einen Text handle, den man gleich verstehe, der simpel sei. Man könnte auf den ersten Blick sogar glauben, er sei zu simpel. Das stimme aber nicht. Er drehe sich um diese große menschliche Grundfrage, wie man man selbst werden könne. Man ahne aber, dass man es in diesem bekannten System gar nicht könne. Mit dieser Diskrepanz arbeite dieser Text, so Schwens-Harrant. Auch die Erzähltechnik fand sie gut, beispielsweise die Brille, die nicht unwichtig war, die immer wieder vorkam.

Je nachdem, welche Brille man aufhabe, sehe man etwas anderes, ein schon sehr altes Erzählbild. „Klasse“ sei, dass der Text das nicht nur behaupte, sondern dass das am Ende auch durchspiegle. „Das Erzählte ist auf einmal durch die Brille geschaut“, so Schwens-Harrant.

Tingler warf ein, die Brille sei „natürlich“ eine Anspielung auf die Kant-Krise von Kleist.

Der Text arbeite laut Schwens-Harrant mit sehr viel Selbstironie. Sie habe den Verdacht, dass die Figur trotz ihrer Selbstironie aus einer Blase spreche und auch darin bleibe, das störe sie.

Tingler konterte, die Figur habe „null Selbstironie“, sie reflektiere sich dauernd, aber nicht ironisch. Die Ironie des Textes liege in der Haltung, in der der Text geschrieben sei.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Kastberger unschlüssig

Klaus Kastberger war sich auch nicht so ganz sicher in Bezug auf die Selbstironie. Kastberger sagte, er habe das Gefühl, dass der Text in der Diskussion etwas zu sehr „beschwert“ wurde mit Dingen, die er intentional gar nicht mit sich führe. Kastberger fand es spannend, dass der Autor den Titel des Textes nicht gelesen habe. Der Titel mache klar, hier gehe es um Lebensformen einer spezifischen Gruppe von jungen Leuten. Kastberger sagte, er wisse nicht, ob das jetzt genau die Welten seien, die ihn gerade interessieren. Er sei sich auch nicht sicher, ob der Text eine so großartige Kritik an diesen Lebensformen darstelle.

Laut Tingler sei der Text auf jeden Fall der humorvollste Text, der heuer gelesen werde.