Lesung Hannes Stein USA
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TEXT Hannes Stein, USA

Hannes Stein liest auf Einladung von Vea Kaiser den Text „Die königliche Republik“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf.

Die erste Geheimbotschaft war in einem Glückskeks versteckt. Ich kann nicht beschwören, dass die Kellnerin mir zuzwinkerte, als sie mir den Keks auf einem Aluminiumtablett servierte (zusammen mit einem Gläschen Reisschnaps und der Rechnung), aber möglich ist es schon. Das war in dem Restaurant Roter Drache an der Ecke Broadway und 81. Straße. Ich ging dort einmal pro Woche hin und aß immer dasselbe: geschmorten Schweinebauch in extrascharfer Sauce. Natürlich kannten die Leute mich längst: „Guten Abend, Professor Sparks“, sagten sie. Dabei war es jetzt mehr als ein halbes Jahrhundert her, seit die Universität mich entlassen hatte. Nebbich!

Ich zertrümmerte den hohlen Keks mit meiner linken Hand; mit der Rechten kippte ich den Schnaps. Aus der Keksruine rettete ich einen schmalen Papierstreifen. Konfuzius sagt: Wer das Unmögliche will, der wird auf die Nase fliegen. Aber Konfuzius ging mich nichts an. Die Zahlenkolonne auf der anderen Seite ging mich etwas an. Ich schob das Papier in meine Brusttasche und legte zwei Zwanziger aufs Tablett, suchte mir zwischen den Tischen einen Weg ins Freie. In den dunklen Fensterscheiben ahmte mich an der nächsten Kreuzung ein Geist nach, der munter am Krückstock ging: das Gespenst eines schwarzen Mannes in Bluejeans. Weiß das Kräuselhaar unter der Baseballmütze; weiß der Vollbart. Tapp, machte mein Stock auf dem Asphalt. Tapp, tapp, tapp. Ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. An diesem Abend saß Bill unten am Empfang. Warum er sich eine rote Clownsnase aufgesetzt hatte, weiß ich nicht. Für ihn war ich kein Professor – für ihn war ich nur Joe, weiter nichts.
Mit dem Aufzug fuhr ich in mein Zimmer im fünfzehnten Stock, knipste die Leselampe an. Zum Glück hatten sie mir wenigstens ein Regal voller Bücher gelassen. Darunter mein eigenes: Die königliche Republik, erschienen anno Schnee in der Hudson University Press. Untertitel: Eine Geschichte der polnisch-litauischen Union. Auf dem Cover war die Fahne der Rzeczpospolita abgebildet: rot-weiß-rot, darin der Kranz, die Krone, das Kreuz, die Wappen. Das Autorenfoto zeigte einen erstaunlich jungen schwarzen Mann, damals noch mit Schnauzer, der sich aus einem Grund, der niemanden etwas anging, für osteuropäische Geschichte interessierte. Der Polnisch und Litauisch gelernt hatte. Auch Deutsch und a bissale Jiddisch.

Als ich noch in Amt und Würden war, hatte ich meine Studenten am Anfang jeden Semesters in den Central Park geführt. Treffpunkt: der Eingang neben der 79. Straße. Wir schlenderten am Belvedere Castle vorbei, am Schildkrötenteich – und da saß er hoch zu Ross: der Bronzekönig mit der Bronzekrone. Zwei Schwerter, in jeder Faust eins, die er gekreuzt vor sich hielt, als wollte er sagen: Halt! Zurück! Bis hierher und nicht weiter! Den Kopf trug er gesenkt. Beinahe sah er demütig aus.

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