Jacinta Nandi, UK/D
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Jurydiskussion Jacinta Nandi, UK/D

Jacinta Nandi liest auf Einladung von Mithu Sanyal den Text „Wenn ich eine Zeitmaschine hätte“. Über eine Frau und Mutter, ihr Kind, wie sie ihr Leben in Deutschland sieht und die Gewaltbeziehung zu ihrem Mann.

Eine Mutter geht mit ihrem kleinen Sohn spazieren, der pausenlos vom Computerspiel Minecraft spricht und denkt über ihren neuesten Liebhaber nach, der eigentlich keiner ist, weil sie nicht mit ihm geschlafen hat. Er soll reich sein, lässt sich die Wohnung im Lockdown aber vom Jobcenter bezahlen. Ihr deutscher Mann ist zum Arbeiten auswärts, die Beziehung gescheitert. Es ist eine Gewaltbeziehung – was die Frau leugnet.

Jacinta Nandi
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Lesung Jacinta Nandi

Mara Delius: „An vielen Stellen sehr gelungen“

Mara Delius eröffnete die Diskussion. Sie sagte, der Text sei an vielen Stellen sehr gelungen. „Ich finde, der Text behandelt einen hochinteressanten Topos. Nämlich den Topos der deutschen Mutter.“ Sie frage sich aber, warum bestimmte Beobachtungen nicht weiter auf der stilistischen Ebene ausgeführt werden. „Ich habe mich etwas geärgert bei der Schilderung des Brotes – es gibt so viele grauenvolle Brotsorten in Deutschland. Sie hätte an einigen Stellen etwas reinschreiben können, wie Dinkelkrüstchen. Um den Text an einigen Stellen noch etwas mehr mit Leben zu füllen.“

Mara Delius
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Klaus Kastberger und Mara Delius

Thomas Strässle sieht schwarzen Humor

Thomas Strässle sagte, der Text beinhalte „sehr viel schwarzen Humor. Das ist alles lustig." Jedoch gehe es hier um eine immanente Katastrophe, nämlich um das Thema der Gewaltbeziehung. Die Frage, die hier ständig diskutiert werde, sei: Wann ist es eine Gewaltbeziehung und ist es eine Gewaltbeziehung? Die Form der Selbstbeschwichtigung sei eigentlich der tragische Kern, der unter dem schwarzen Humor liege. Man hätte einige Szenen auch anders reihen oder weglassen können. „Aber er kommt am Ende zu einem Punkt: Soll ich ihn töten oder nicht? Das gehört für mich zu dem zentralen Strang in diesem sonst recht absurdisch aufgebauten Text“, so Strässle.

Lesendes Publikum
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Publikum im Saal

„Gewalt an Frauen klares und dringliches Thema“

Brigitte Schwens-Harrant sagte, dass die Gewalt an Frauen ein klares und extrem dringliches und wichtiges Thema in dem Text sei. „Mir gefällt vor allem die Dramaturgie und die Dynamik dieses Textes.“ Auch die flotten Dialoge seien sehr gut gemacht. „Ein sehr lebendiger Dialog-Mechanismus.“ Nach und nach werde das Grauen und die Katastrophe sichtbar. Das werde auch mit der Macht der Sprache kombiniert. Die Großbuchstaben in dem Text würden die Gewalt der Sprache in dem Text sichtbar machen. Auch die Situation des Kindes werde sehr fein in die Erzählung hineingezogen.

Insa Wilke
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Insa Wilke

„Was muss ein Siegertext mitbringen?“

Insa Wilke fragte: „Wir haben hier mit sehr unterschiedlichen Texten zu tun. Ich wurde bei einem Interview gefragt: Was muss ein Gewinnertext mitbringen? Ich habe gesagt: Das kann man immer nur am einzelnen Text begründen. Da gibt es nicht das Gesetz dafür.“ Dies hier sei eine andere Kategorie von Text. Er sei eine Art Comedy, vielleicht politische Comedy. Der Text arbeite mit vielen Stereotypen und den wirklichen Problemen. Der Text arbeite auch sehr viel mit Einfällen. Der Ton der Erzählerin sei ein „vor sich Hinplätschern“. Die Kunst sei es, die Tonlage so zu halten, „dass wir trotzdem dranbleiben“ und dafür seien die Einfälle wichtig.

Mithu Sanyal
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Mithu Sanyal

Mithu Sanyal: „Ein Thema anders erzählt“

Mithu Sanyal sagte, sie habe beeindruckt, dass hier ein Thema, das wir alle kennen, „anders erzählt“ werde. Daher habe sie den Text beim Bewerb eingebracht. Der Text habe sie immer wieder überrascht und einen neuen Blick auf das Thema eröffnet. Die vermeintliche Einfachheit in dem Text habe aber letztlich nicht mit Einfachheit zu tun. „Der Mann ist nicht immer nur gemein, sondern er ist sehr viel komplexer.“ Auch das Thema der Abtreibung werde sehr ehrlich behandelt. „Sätze, die man nicht aussprechen darf, werden hier ausgesprochen. Sie werden wieder ausgesprochen und sie werden trotzdem liebevoll ausgesprochen.“

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Kastberger: Mit Vergnügen gelesen

Klaus Kastberger sprach von einem „vergnüglichen Text“, den er mit Freude gelesen habe, auch wenn es um ernste Themen gehe. „Er hat für mich etwas Kabaretthaftes.“ Immer wieder würde er sich fragen, ob denn die geschilderten Szenen wirklich glaubhaft seien. Wenn es etwa um die Mütter und das Koksen gehe. Und die zentrale Frage sei: „Wie nennt man das Ding? Ist das eine Gewaltbeziehung?“ Die Stärke an dem Text sei, dass diese Frage letztlich an den Leser ausgelagert werde. Der Text löse gewisse Fragen nicht und der Leser müsse es sich selber aus den Hinweisen zusammensuchen. „Ich finde das ist eine Leistung.“ Er habe bei den Übertreibungen auch ein bisschen an Thomas Bernhard gedacht. Der Text wolle locker und leicht bleiben, „Er ist aber deshalb nicht weniger konsequent. Das hat mir Vergnügen bereitet."

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Tingler gefallen die koksenden Mütter

Philipp Tingler begann seine Ausführungen mit dem Satz: „Die koksenden Mütter sind das Beste an dem Text.“ Das sei die gelungenste Szene „mit allen Fragen und Referenzen“. Er wolle aber die Debatte etwas vernünftiger gestalten. Es reiche nicht aus, dass bestimmte wichtige Themen und Reizworte bedient werden. Der Text enthalte ganz schlichte Passagen und er, Tingler, müsse das beurteilen, was er hier sehe. Wichtige Figuren wie der Mutter und Sohn hätten „ganz inkonsistente Reflexionsniveaus.“ Einerseits sage sie Sätze wie „Vielleicht kriegt er durch die Pobakterien Krebs“, andererseits sei zu der Einsicht in der Lage, dass sie das Kind nur aus mangelndem Selbstwertgefühl habe. „Das sind totale unvereinbare Ebenen der Reflexion“, so Tingler.

Als Schweizer müsse er noch anmerken, „dass die Auseinandersetzung mit dem Fremdsein in Deutschland gelegentlich auf einem Niveau stattfindet, wie man es kulturell sanktioniert einfach überhaupt machen kann und dass die Leute mit Recht monieren würden, dass es ziemlich krass und drastisch und auch schlicht ist.“ Applaus im Publikum.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Brigitte Schwens-Harrant: „Die Übertreibungen haben natürlich etwas damit zu tun, dass Tabus gebrochen werden.“ Thomas Strässle: „Die Sachen, sich ein bisschen zurechtlügen, müsste man fast sagen. Kann man in einer recht. So Ich argumentiere mir die Welt zurecht.“ Wilke: „Ich verzichte auf eine Retourkutsche, das wäre zu billig.“ Klaus Kastberger: „Ich wundere mich sehr wie man diesen Text so bitterernst lesen kann. Man braucht einen Humor, um ihn zu verstehen." Tingler: „Sie verstehen wieder einmal nicht, worum es geht. Sie wollen es einfach nicht verstehen.“

„Ich finde, es sollte eine Kinderbetreuung geben beim Bachmann-Preis“, sagte Jacinta Nandi zum Abschluss in die Kamera.