Martin Piekar
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Jurydiskussion Martin Piekar, PL/D

Martin Piekar liest auf Einladung von Klaus Kastberger den Text „Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk“. Die Geschichte eines heranwachsenden Sohnes und seiner polnischen Mutter in einer kleinen Wohnung.

Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Jugend mit seiner Mutter, die trank. Sie arbeitete im Altersheim und hatte eine Mitarbeiterwohnung. Der heranwachsende Sohn spielt World of Warcraft, hörte Heavy Metal, kocht und geht in die Schule. Die Mutter arbeitet, schaut im Fernsehen Gerichtshows und trinkt. Der Vater ist zurück in Polen. Sie redet laut mit sich selbst, was den Sohn irritiert und schließlich fast in den Wahnsinn treibt.

Insa Wilke, Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke, Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler

Insa Wilke: „Mut, Trauer einen Ausdruck zu geben“

Insa Wilke sagte, es sei ein „sehr kluger Text. Wenn man ihn still liest, kann er einen erst einmal verwirren. Das ist eine Art Requiem der ungewöhnlichen Art. Er fängt ja in einem Flur an und dann in einer offensichtlich kleinen Wohnung. Das macht Platz für viele Räume und Stimmen, aber auch Raum für Aggressionen, die aber nicht in tatsächliche Aggressionen umschlagen, das finde ich auch wichtig.“ Man könne negativen Gefühlen einen Platz geben. Es sei also kein Kindertext, sondern ein sehr körperlicher Text. „Er hat auch den Mut, der Trauer einen Ausdruck zu geben.“

Mithu Sanyal hätte Text fast selbst eingeladen

Mithu Sanyal bedankte sich dafür, dass der Text eingeladen wurde. „Er war auch bei mir in der sehr engen Auswahl." Sie müsse zugeben, dass der Text für sie aufgrund der Pflegetipps rausgefallen sei. „In der Vorlesung nun haben sie mich nicht gestört.“ Sie habe beim Zuhören wieder geweint. „Das ist für mich ein Kriterium.“ Es gebe viel Ungesagtes, auch wenn viel gesprochen werde. „Dadurch geht mir das Ungesagte noch einmal viel näher, ich muss in den Text nicht viel hineinfantastieren, es ist einfach da, es ist für mich greifbar.“ Der Text habe sie auch an ihre polnische Verwandtschaft erinnert, wie Sanyal noch anmerkte.

Klaus Kastberger, Mara Delius, Mithu Sanyal
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger, Mara Delius, Mithu Sanyal

„Durch die Lesung unglaublich gewonnen“

Thomas Strässle merkte an: „Für mich hat der Text durch die Lesung unglaublich gewonnen.“ Für ihn sei sehr viel sprachlich klargeworden, „dadurch, dass ich es jetzt gehört habe.“ Etwa der Pflegetipp sei ihn zuvor „mittelzugänglich gewesen“. Das sei kein cleaner und ungeglätteter Text. „Die Pflegetipps, mit denen habe ich mich auch schwer getan.“ Das Setting – der Schauplatz, der Flur – und das Wiederholende. Wenn es etwa zehnmal heiße: „Ich spreche mit den Wänden“. Strässle: „Zehnmal, das verzeiht man einem Text eigentlich nicht so. Aber hier – dieses Mühsame, dieses Quälende in der Beziehung.“ Was ihn erstaunt habe, dass die Mutter zunächst nichts gesagt habe, „und plötzlich wird sie die Redseligkeit selber“, „wie das genau motiviert ist, das ist mir nicht deutlich geworden.“

Wilke: Nicht autobiographisch lesen

Insa Wilke sagte: „Es ist kein Text, der autobiographisch gelesen werden soll. So lese ich das. Das ist eine Art Beiseitegesprochen – wie Werbeunterbrechungen, nur, dass etwas Sinnvolleres gesprochen wird.“ Sie sei sich dann aber „dämlich vorgekommen, dass ich bei der Erzählstimme Fehler korrigiert habe.“ Die Fehler seien die Solidarisierungen mit der Mutter gewesen. Sonst hätte es ein Abwenden von der Mutter gegeben. „Sie reden dann doch miteinander, das verändert die gesamte Beziehung.“

„Eine Art Mutterporträt“

Mara Delius sagte, „Die Frage ist doch eher, wie der Text gebaut ist, und welche Sprache gesprochen wird.“ Beeindruckt habe sie die Art der Vielfältigkeit der Stimmen. „Wie hier eine Art Mutterporträt geschaffen wird, wo man einer gewissen Ratlosigkeit gegenübersteht, wie man sich gegenüber der Mutter verhalten soll und wie man dem Menschen in der eigenartigen klaustrophobischen Situation helfen kann.“ Der Text schaffe eine Räumlichkeit, die sehr gelungen ist. Es geben auch Stellen, die nicht so gut sein.

Brigitte Schwens-Harrant
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Philipp Tingler

Tingler findet Bruch schwierig

Philipp Tingler wollte „vorwegschicken, dass es eher ein Text zum Hören ist als zum Lesen. Das ist eher eine ambivalente Qualität, auch wenn man sagen kann, dass der Vortrag großartig ist. Aber wir beurteilen ja den Text als Textkörper.“ Er finde den Text im ersten Titel „da gut, wo er es schafft, die Beziehung auf den Punkt zu bringen und wie die Beziehung eskaliert.“ Und dann komme der Schrei und plötzlich sei es eine ganz andere Figur. „Ich finde diesen deutlichen Bruch schwierig.“ Die Pflegetipps in dem Text finde er banal, so Tingler. Diese könne man „ersatzlos streichen“. Bedenklich stimme ihn jedenfalls der strukturelle Bruch, der immer wieder im Text erkennbar sei.

Thomas Strässle verwies auf eine Textpassage auf Seite 9. „Sie könnte mit mir reden oder mit einem Psychologen.“ Der Schrei sei so eine Markierung, dass man sagen könne, danach dürfe etwas brechen.

„Der Schrei macht etwas“

Brigitte Schwens-Harrant sagte, sie sehe auch den Bruch, und dass der Schrei etwas gemacht habe. „Das ist wie ein Stöpsel einer Flasche, die aufgeht, und dann kommt etwas raus.“ Das sei ihr im Text nicht plausibel gewesen. Sie habe den Eindruck gehabt, dass sie zwei Texte vor sich liegen habe. Zu den Pflegetipps sagte sie, dass sie diese nicht gebraucht habe, „aber vielleicht sind sie ja für uns Juroren geschrieben.“ Sie fand, dass es sehr geholfen habe, die Sprache zu hören.

Klaus Kastberger meinte, der Text lebe von der Emotion. Das sei in der Art der Emotion merkbar gewesen. Das sie auch auf das Publikum übergesprungen. „Das ist etwas, was notwendig ist.“ Es sei durchaus ein dreckiger Text, der sich auf einen kleinen Raum konzentriere. „Woher kommt der Dreck in dem Text? Er kommt auch von der Rauheit der Stimme.“ Für Kastberger seien die Pflegetipps der Grund gewesen, den Text zu nominieren. Sie seien rhythmische Elemente gewesen. Diese hätten „das Ganze auch konsumierbarer gemacht.“

Philipp Tingler kritisierte an dem Text, dass keine literarische Gestaltung vorhanden sei. „Das ist very offensichtlich“.

Insa Wilke und Thomas Strässle
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Insa Wilke mit Thomas Strässle

Winke: Pflegetipps durchaus ernst lesen

Ilsa Winke sagte, man könne die Pflegetipps „durchaus ernst lesen, aber sie sind erst einmal komisch. Das sind komische Momente. Das zeigt, wie viele Stimmungen und Töne in die Beziehung hineinkommen.“ Marius Delius fragte: „Kannst du das näher ausführen?“ Denn sie könne die Komik nicht erkennen. Wilke: „So war es auch von mir gemeint. Die Komik beruht auf der Wiedererkennbarkeit. Die Komik hat mit den Brüchen zu tun. Man wird auf einmal von Warm in Kalt gesetzt.“ Es werde kein romantisierendes Bild von Liebe gezeichnet, sondern die Liebe habe mit Selbstverständlichkeit und Anstand zu tun.

Martin Piekar
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Martin Piekar

Piekar verzichtete auf Schlusswort

Mithu Sanya hatte diesmal das Schlusswort: „Ich mag die Art der Vielsprachigkeit extrem an dem Text. Das will ich hervorheben.“

Moderator Peter Fässlacher fügte letztlich hinzu: „Ich glaube, das ist der einzige Text, wo während der Diskussion der Lesende zwei oder sogar vier Seiten mitgeschrieben hat, um Gottes Willen.“

Auf die Frage, ob er noch etwas sagen wolle, antwortete Martin Piekar: „Ich habe lange überlegt, ob ich den Korken ziehen soll, aber ich lasse ihn stecken." Man könne mit ihm persönlich sprechen.