Clemens Bruno Gatzmaga
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Jurydiskussion Clemens Bruno Gatzmaga, D

Clemens Bruno Gatzmag las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant seinen Text „Schulze“. Vor einem wichtigen Pressetermin ist der Protagonist Schulze zwischen Selbstzweifel und Selbstbewusstsein hin und hergerissen.

Am Morgen vor der wichtigen Pressekonferenz, in der es um einen Fehler geht, den er im Unternehmen begangen hat, wacht Schulze auf und bemerkt einen Tropfen Urin in seiner Unterhose, der wohl nach einem Traum, den er vergessen hat, zurückgeblieben ist. Im Badezimmer ist der Urintropfen jedoch verschwunden. Er denkt an die Presskonferenz. Zum einen will er die Flucht nach vorne antreten, zugeben, einen Fehler gemacht zu haben, zum anderen ist er von Selbstzweifel zerfressen, er braucht seine Frau Elke, die er aber nicht finden kann.

Clemens Bruno Gatzmaga
ORF/Johannes Puch
Clemens Bruno Gatzmaga

Insa Wilke sieht Mutterproblem

Insa Wilke startete die Diskussion zu Gatzmagas Text. Sie sage, sie fände es sehr schön, wie sich die Fügung der Lesereihenfolge ergebe. Nach der Mutterverherrlichung habe man hier nun das Mutterproblem. Die Figur sei ja nicht nur von seinen Schulkameraden gequält worden, sondern der Tropfen in der Unterhose rufe für sie eine Mutter auf, die dem Jungen immer sage, er sei schmuddelig.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Das könne man in diesem Text lesen, weil er diese Ebenen habe, die Fassade, die jemand aufrichte und die Erfahrungen, die dahinterstehen und dazu führen, dass er nicht so handeln könne, wie er eigentlich wolle. Das werde in diesem Text auf „kleinem Raum, mit beschränktem Personal“ sehr gut durchexerziert, quasi wie aus einer Demütigung eine Aggression und eine Erzählung der Unfreiheit werde.

Vea Kaiser sieht keine Mutter

Vea Kaiser sah in diesem Text keine Mutter, sagte sie in Richtung Wilke. „Im Hintergrund drohend“, so Wilke. Das sei eine Fantasie und eine kreative Leistung für eine Literaturkritikerin. Kreativität sollte man aber besser den Autoren lassen, so Kaiser. Das Hauptproblem sei, dass dem Autor eine gewisse Kreativität der Figurendarstellung völlig abgehe. Es gebe ein Managerklischee nach dem anderen – den Mercedes, die Marlboro, das Koffeinshampoo.

Vea Kaiser mit Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Vea Kaiser

Das Betonen männlicher Körperflüssigkeit auf eine so monotone Weise komme nach dem „vielschichtigen Körperflüssigkeiten-Porträt“ von Stahlmann noch furchtbarer heraus. Es gebe Texte, die möge man nach dem ersten Lesen. Gatzmagas Text sei so einer gewesen, er habe jedoch nach jeder Lesung abgebaut. Man habe einen Text, der erzählt, wie ein Mensch sich nicht entschuldigen kann, obwohl er sich entschuldigen wolle. Das sei ein Phänomen, das man täglich in den Nachrichten sehe. Der Text erzähle nichts darüber hinaus, außer vielleicht, dass die Figur einmal zum Urologen gehen sollte, so Kaiser.

„Beim ersten Lesen begeistert, dann nicht mehr so“

Michael Wiederstein schloss sich Kaiser ein Stück weit an. Beim ersten Lesen sei er sehr begeistert gewesen, jetzt sei er es nicht mehr so. Im Text gehe es nicht um Mütter und Traumata, sondern um Kontrollverlust. Dieser sei metaphorisch durch die drei Urintropfen in der Unterhose dargestellt, der Kontrollverlust ziehe sich aber durch den ganzen Text. Wiederstein sieht in der Hauptfigur einen „Lokalpolitiker, der irgendetwas durchboxen muss und merkt, er kommt an seine Grenzen.“

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Auf den ersten Blick sehe der Text sehr simpel aus, aber man habe eine interessante Verzahnung des Manager- bzw. Lokalpolitiker-Floskeln mit den eigenen Gedanken des Protagonisten. Die Hauptfigur wolle „lückenlos aufklären“ und schaue in seine Unterhose. Diese Parts finde er „recht gut gemacht“ und eine Pointe, die beim ersten Lesen nicht auffalle, so Wiederstein. Er habe eine gewisse Sympathie für das „arme Schwein“, das dargestellt werde. Am Schluss sei es ihm zu auserzählt gewesen, Schultze sei aber ok gewesen.

Kastberger: Alter weißer Mann

Klaus Kastberger sage, er sei bei diesem Text „probeweise Team-Wilke“, ihm gefalle auch der Kontrast zum ersten Text von Stahlmann, weil die beiden Texte formal völlig unterschiedlich seien. Leicht sarkastisch bemerkte Kastberger, dass Gatzmagas Text endlich ein Text sei, der sich um die drängenden Probleme der Menschheit, nämlich die des alten weißen Mannes kümmere.

Klaus Kastberger und Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger und Mara Delius

Es gebe viel zu wenige Texte, die sich mit Körperflüssigkeiten von alten weißen Männern beschäftigen, so Kastberger. Ihm gefalle es eigentlich sehr gut, was an den drei Tropfen Urin alles dranhänge, nämlich soziale Komponenten, Wirtschaftssystem etc. Diese Konzentration auf die wahnsinnige „Klitzekleinigkeit“ der Urintropfen gefalle ihm sehr gut, weil es nicht bei den Tröpfchen bleibe. Sie würden eine ganze Welt zum Einsturz bringen. Der Text sei „originell“ und er sei froh, dass er ihm gefalle, denn so könne er sich die bösen Blicke von Birgitte Schwens-Harrant ersparen, die den Text ausgewählt hatte, scherzte Kastberger.

Tingler sieht Urtyp der Parabel

Philipp Tingler hingegen konnte dem Text überhaupt nichts Originelles abgewinnen, es sei der Urtyp der Parabel. Dennoch finde er ihn gut, er funktioniere und gehe auf. Er habe jedoch etwas seltsam Antiquiertes und Nostalgisches und hätte auch vor 30 Jahren hier vorgetragen werden können. Sehr interessant fand Tingler, dass Wiederstein von Sympathie spreche, er habe auch ein Gefühl von Sympathie gespürt.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Der Text vergebe sich hier jedoch eine Möglichkeit, indem erden Charakter nicht ambivalent genug gestalte. Um zeitgemäß daherzukommen verwende er das Wort Lügenpresse, dadurch werde der Protagonist in ein Lager einsortiert, das überflüssig sei und verhindere, dass man ihn sympathisch finden könne. Der Text wäre vielschichtiger und interessanter, wenn die Figur in ihrem Dilemma so sei, dass man als Leser zwischen Mitgefühl und Kritik schwanke. Im Großen und Ganzen fand Tingler den Text jedoch „gut“.

Schwens-Harrant: Präzise aufgebaut

Brigitte Schwens-Harrant, die den Text eingeladen hatte, sagte, sofort angesprochen habe sie die Erzählökonomie, es sei alles präzise gebaut. Man habe einen engen Raum und einen kurzen Zeitabschnitt, vom Aufstehen bis zur Pressekonferenz. Darin passiere etwas sehr Entscheidendes, nämlich die Möglichkeit, eine andere Entscheidung zu treffen als die, die dann getroffen werde. Das finde sie „unheimlich gut“.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Es gebe Texte, die simpel wirken würden, dass man an ihnen scheitern könne, weil sie als Story so gut gebaut seien, dass man gar nicht merke, womit gearbeitet werde. Bei den Urintropfen gehe es ja nicht nur um die Welt des Schulzes, die zusammenbreche, sondern es sei auch eine unheimlich politische Angelegenheit. Männer wie er würden mehr als nur seine eigene Welt zum Einsturz bringen, indem sie weitermachen, obwohl sie über ihre Fehler Bescheid wissen.

Delius: Ruhige, präzise Schilderung

Mara Delius sah im Text ein schönes Beispiel dafür, dass es oft effektiver sein könne, Dinge ruhig und präzise zu schildern. Sie könne Schwens-Harrant in allem was sie gesagt habe, zustimmen. Ihre einzige Kritik an dem Text sei, wenn es tatsächlich um das Scheitern und die Selbstzweifel eines alten weißen Mannes an sich selber gehe, dann sei diese Art der Gegenwärtigkeit nicht stark genug ausgeführt. Ihr sei es ähnlich wie Vea Kaiser gegangen, dass sie sich über den Mercedes gewundert habe, hier hätte man gegenwärtigere Signale setzen können, um den Text in seiner Reduzierteit stärker zu machen. Es wäre ein Gewinn an Ambivalenz gewesen, hätte Schulze einen Tesla gefahren, warf Philipp Tingler ein.