Öziri Necati
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Jurydiskussion Necati Öziri

Necati Öziri wurden von Juryvorsitzender Insa Wilke eingeladen. Er las seinen Text „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“. Darin wendet sich der todkranke Arda an seinen Vater, der seine schwangere Mutter und Schwester noch vor seiner Geburt verlassen hat und zurück in die Türkei ist. Der Text fand bei der Jury Anklang.

Der an Multiorganversagen leidende Arda schreibt vor seinem Tod an seinen Vater. „Papa“ will er ihn nicht nennen, Murat erscheine ihm dann aber besser für die nötige Distanz. Der Vater hatte seine Familie in Deutschland verlassen, als Ardas Mutter mit ihm schwanger war.

TDDL 2021 Necati Oeziri Diskussion

Er ging zurück in die Türkei, wo er als Beteiligter an einer gescheiterten Revolution für Jahre ins Gefängnis musste. Der Sohn stellt sich verschiedene Szenarien vor. So habe der Vater wieder geheiratet und eine neue Familie, oder er sei tot.

Vea Kaiser
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Vea Kaiser

Kaiser sah „grandiose Lesung“

Vea Kaiser meldete sich als erste der Jury. Sie sei immer wieder begeistert, wenn ein Text sie ab der ersten Seite an nicht mehr loslasse. Dieser Eindruck sei von der „grandiosen Lesung“ unterstützt worden. Sie sei sehr begeistert. Es sei nicht der neueste Topos der Literatur, sie habe es aber noch nie so gefühlvoll geschildert gelesen. Es sei keine bloße Anklage, sondern auch der Versuch, sich den Vater als guten Vater vorzustellen. Das habe sie sehr gerührt. Öziri schaffe es aber auch, eine passiv-aggressive Verzweiflung hineinzubringen.

Michael Wiederstein
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Martin Wiederstein

Wiederstein widersprach

Michael Wiederstein fasste sich kurz. Man habe es mit einer verzweifelten Verfluchung zu tun argumentierte er gegen Kaiser. Bis zum Schluss werde die Dramaturgie passgenau eingesetzt, die Bilder seien perfekt. Dass das neue Leben nach dem Gefängnis mit den Socken beginne, finde er toll. Auch der Ton sei gelungen, dieser müsse dem Milieu entsprechen, das habe Öziri geschafft. Wenn er etwas kritisieren könne, dann den letzten Absatz, wo der „Erklärbär“ um die Ecke komme und es vor eine Spiegelsituation drapierte, so Wiederstein.

Vea Kaiser hingegen fand gerade den letzten Absatz großartig.

Jurydiskussion Öziri Necati
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Lesung Necati Öziri

Kastberger erinnert Text an Kafka

Klaus Kastberger fühlte sich an „Brief an den Vater“ von Franz Kafka erinnert. Die Folie von Kafka werde mit umgedreht. Bei Kafka war es so, dass sich ein Sohn von dem Vater losschreiben wolle. Hier sei es so, dass die Hauptperson den Vater herbeischreiben wolle. Für Kastberger wurde zu sehr auf die Tube gedrückt, es sei sehr forciert, dass der Sohn auch noch im Sterben liegt, das hätte es nicht gebraucht.

Tingler sieht Mode des letzten Jahres

Philipp Tingler fand den Ton problematisch, er entspreche der Mode vom letzten Jahr. Öziri habe versucht, „Street cred“ (Glaubwürdigkeit auf der Straße) einzubauen. Tingler sah das gleiche Problem wie Kastberger. Der Text habe eine große Fülle an äußerer Handlung und Dramatik und im Vergleich dazu ein gewisses Missverhältnis zu innerem Geschehen. Das Ich stehe unbeweglich da und setzt sich mit dem Vater auseinander, ihm sei so viel zugestoßen, die Auswirkung auf das Ich werde aber nicht betrachtet.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Von der Kraft der Imagination

Brigitte Schwens-Harrant fand die Kraft der Imagination spannend, die verschiedene Bilder des Vaters vom liebevollen Vater bis hin zum bereits gestorbenen Vater. Einen Einwand, den sie einbrachte, ist, dass es mit einem Stocken begann, davon merkte sie jedoch gar nichts. Es war nicht viel Stocken, sondern fließend.

Klaus Kastberger bei der Lesung von Necati Öziri
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Klaus Kastberger liest den Text von Necati Öziri mit

Laut Insa Wilke gebe es durchaus ein Stocken. Der Text sei mitten aus einer Wut, Verzweiflung vielleicht auch einer Erfahrung in verschiedenen Bereichen des Lebens, geschrieben. Die Erfahrung zu machen, nicht gespiegelt zu werden, kein Ich haben zu dürfen. Man habe es zu tun mit einer Lebenserfahrung, wo von vornherein eine Daseinsberechtigung abgesprochen werde. Es sei enorm wichtig, dass er ins Gefühl gehe, bei der Vorstellung des Vaters, der am Abend nach Hause komme.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Wilke fand Text gelungen

Das Politische des Textes habe sie auch eingenommen, sagte Wilke, die Erfahrung in Deutschland und zugleich auch die politische Geschichte in der Türkei, das Thema der gescheiterten Revolution, das heute so aktuell sei. Wie kann man heute noch politisch handeln, das sei ein Subthema des Textes, so Wilke. Er sei auch ein Erinnerungstext, der möglicherweise an die 80er Jahre in der Türkei erinnere, überblendet mit dem Putsch 2016. Neben der berührenden Geschichte sei es das, was Wilke an dem Text gelungen fand.

Tingler: Will zuviel auf einmal

Philipp Tingler fand den Grad der theatralischen Aspekte kritikwürdig. Man spüre die Zutaten des Textes und dass das durchaus kalkuliert sei. Für Tingler will der Text zu viel auf einmal, das gehe jedoch nicht auf. Kaiser widersprach Tingler. Der Text schöpfe aus den Vollen, er sei Gott sei Dank pathetisch, das finde sie großartig. Insa Wilke konstatierte zum Schluss, dass, wenn es ein Text gewesen wäre, der nur auf die Gefühlsebene gehe und die Unmittelbarkeit aufrufe, dann wäre es genau das, was der Autor von sich aus nicht wollte, nämlich, wie er sagte, „einen Bildungsroman für Kanaken“. Wilke sagte, sie nehme an, Öziri wolle auch keinen „Kitsch-Kanaken-Kram für Nichtkanaken“.