Necati Öziri
Robert Schittko
Robert Schittko

TEXT Necati Öziri (D)

Necati Öziri liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Wenn du das hier liest, Papa – und hier stocke ich schon. Soll ich dich so nennen? Ich weiß, dass Aylin dich so nennt, wenn sie von dir erzählt – wirklich nur ganz selten, bilde dir jetzt nichts ein. Aber anders als mich habt ihr Aylin auch noch lachend zwischen euch fliegen lassen, eine Hand du, eine Hand Mama und dann hoch. Sowas erzählt sie mir manchmal, wenn sie und ich einen guten Moment haben. Und wie diese Erinnerung hat Aylin auch das Wort „Papa“ noch aus dieser Zeit. Sie hat es gelernt, als wäre es ein ganz gewöhnliches Wort. Bei mir ist es anders. Ich hab‘s oft ausprobiert: Papa? Vater? Baba? Das Wort auszusprechen, ist gar nicht so schwer, nur danach geht es nicht mehr weiter. Merkwürdiger noch als „Papa“ zu sagen, ist: Es mich sagen hören. Es klingt wie ein Fremdwort, das ich irgendwo aufgeschnappt oder nachgelesen habe. Wenn ich es benutze, klingt es gespielt. Wie sagt man „Papa“, ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Murat. Also: Wenn du das hier liest, Murat, werde ich schon tot sein.

Bei meinem ersten Praktikum am Theater hat die Regisseurin den Schauspielerinnen, die im Kreis auf dem Boden saßen, eine Schreibübung aufgegeben:
„Nehmt euch einen Satz, von dem ihr todsicher sagen könnt, dass er zu euch gehört, dass er euch im Innersten ausmacht und dann fragt euch: Wer wärt ihr, ohne diesen Satz?“ Die Regisseurin stolzierte über den Tanzboden. „Zum Beispiel der Satz: ‚Ich habe Angst in stillen Räumen.’ Oder: ‚Ich tue alles für meine Kinder.’ Wie würde euer Tag, euer Leben aussehen, wenn diese heimliche Angst, die hinter jeder Begegnung droht, plötzlich weg wäre? Oder wenn das, woran ihr immer geglaubt habt, auf einmal verschwindet, oder wenn der Grund, aus dem ihr morgens das Haus verlasst, plötzlich nicht mehr da ist? Und jetzt fangt an zu schreiben.“ Damals saß ich in der Ecke der Probebühne, sortierte lautlos einen Haufen Kopien und fragte mich, welcher Satz bei mir wegfallen würde. Inzwischen weiß ich es. Er lautet: „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben.“

Ich hab mir oft vorgestellt, wie es sein würde, wenn du mal gestorben bist. Versteh mich nicht falsch, ich hab dir nicht den Tod gewünscht. Ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist. Im Gegenteil. Wahrscheinlich bist du nach dem Gefängnis der sanfteste, liebevollste Vater der Welt geworden. Wahrscheinlich kommst du spät abends von der Arbeit nach Hause, und deine zweite Frau liegt schon im Schlafzimmer auf ihrer Seite des Bettes. Sie trägt bestimmt einen rosa Satin-Schlafanzug, einen, wie du ihn Mama mal zum Geburtstag geschenkt hast, obwohl überhaupt kein Geld dafür da war. (Auch diese Geschichte kenne ich von Aylin.) Womöglich liest deine zweite Frau eine Zeitschrift mit Bildern teurer Möbel, Gurkenmaske im Gesicht, die Haare ins Handtuch gewickelt. Sie hört, wie sich dein Schlüssel im Schloss dreht. Darauf hat sie den ganzen Abend gewartet. Ein kurzer Blick auf die Uhr: „Später als sonst“, denkt sie und erinnert sich daran, wie hart du jeden Tag arbeitest. Sie weiß nichts von deinem Leben vor dem Gefängnis, dem Leben in Deutschland, sie weiß nicht, dass du so viel arbeitest, weil du dein zweites Leben nicht so vermasseln willst wie dein erstes. Du kommst also nach Hause, stressiger Tag, im Kopf klingelt noch das Bürotelefon, du schließt die Tür hinter dir, sachte, niemand soll dich hören, du hängst den Mantel vorsichtig über die anderen Jacken und stellst die Schuhe neben diese bescheuerten Dinosaurier-Gummistiefel, die alle Rich Kids haben. Du betrittst diese neue Wohnung so leise, wie du unsere damals verlassen hast, als du dich nachts aus dem Bett deiner schwangeren Frau geschlichen hast. Du hast damals keine Tasche gepackt und keinen Zettel hinterlassen, und doch wusste Mama sofort was los war, als sie aufwachte und der Rahmen mit Aylins Bild auf dem Nachttisch leer war.
Jetzt: Ein Zettel deiner Frau auf dem Wohnzimmertisch. „In der Mikrowelle sind Manti, Joghurt im Kühlschrank.“ Sei ehrlich, Murat, sie kann nicht kochen, oder? Natürlich nicht, eine Frau, die in der Küche ihre Erfüllung findet, würdest du nicht lieben. Sie würde dich zu sehr an deine Mutter erinnern, du dich zu sehr wie dein Vater fühlen, der General, der auch dich zum General machen wollte. Und weil deine Frau nicht kochen kann, hast du dir auf dem Rückweg gerade noch schnell ein Şiş Kebab bei deinem alten Revoluzzer-Kumpel Serkan Amca reingezogen. Er ist auch wieder zurück, oder?
Du gehst also vorbei an den Manti in der Mikrowelle, du siehst, im Schlafzimmer brennt noch Licht, du lockerst deine Krawatte, ein Kuss auf die grün-vercremte Stirn deiner Frau, vielleicht ein schneller Dialog: „Weck ihn nicht.“ – „Keine Sorge“. Dann zurück in den Flur, der Holzboden knarrt unter deinen Füßen. (Schwarze Socken. Nach dem Knast hast du dir erstmal eine ganze Schublade davon zugelegt. So geht ein geordnetes Leben los.) Du öffnest die Tür am Ende des Flurs einen Spalt. Ein Lichtbalken fällt auf einen schwarzen wuscheligen Kopf am Ende des Bettes, darüber das Fenster. Du setzt einen Fuß auf den Teppich, einer von diesen mit Straßen und Parks und so. Pass auf, dass du im Dunkeln nicht auf einem Auto ausrutschst und dir das Genick brichst, Murat. Du setzt dich an die Bettkante deines jüngsten Sohnes, legst eine Hand auf die Decke über seiner Schulter und die andere streichelt seine Finger. Du bildest dir ein, er würde im Schlaf spüren: Du bist da. Selbst wenn heute Nacht wieder ein Militärputsch stattfindet, selbst wenn sie morgen kommen, um dich abzuholen, selbst wenn in diesem Moment ein Freund des Soldaten, den du getötet hast, durch das Fenster des Kinderzimmers einbricht, um seinen Kameraden zu rächen. Du bist da. Und während du das denkst, hörst du ihn leise atmen, draußen die Minarette hinter den im Wind raschelnden Baumkronen, Mond, Sterne, alles da.