Lesung Juan S. Guse
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Jurydiskussion Juan S. Guse, D

Der Deutsche Juan S. Guse wurde von Mara Delius eingeladen. Er las seinen Text „Im Falle des Druckabfalls“. Darin wird ein bis dato unbekanntes und isoliertes Volk im Taunus-Gebiet in Deutschland entdeckt, das den Frankfurter Flughafen nachbaut.

Die Autorin Ines lebt im Basislager, das nach dem Erstkontakt mit dem isolierten Volk im Taunus aufgeschlagen wurde. Dort soll sie einen Bericht über diese Menschen schreiben, die kaum etwas anhaben und eine Art Helm auf dem Kopf tragen. Im Basislager verbringt sie sehr viel Zeit mit dem Dramatiker Wolfram, zuhause warten ihr Mann und ihre Tochter auf sie. Eines Tages wird sie ausgewählt, Teil einer Expedition zu sein, die die isolierten Menschen in ihrem Unterschlupf aufsuchen soll. Dort angekommen, merkt die Expedition, dass die Gruppe den Frankfurter Flughafen nachgebaut hat und ihn auch betreibt. Ines steigt mit ihren Kollegen in eines der Flugzeuge.

Der Text endet, als sich die Maschine auf das Rollfeld bewegt und Ines angstvoll bemerkt, dass einer ihrer Kollegen eine Stange Toblerone im Duty-Free-Shop gekauft hatte. Der letzte Satz: „Noch nie hatte sie eine solche Angst vor einer Stange Toblerone.“

Lesung Juan S. Guse
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Lesung Juan S. Guse

Kaiser: „Bester letzter Satz“

Vea Kaiser griff den letzten Satz auf, der für sie persönlich der beste letzte Satz in der Geschichte des Bachmannpreises sei. Dieser Satz zeige, was der Text sehr gut mache, der Text durchbreche permanent die Erwartungen, die man an Texte habe. Es sei ein literarisches Spiel mit dem Wunsch nach Verständnis. Ihr persönlich gehe es wie einer der Insassinnen des Basecamps, sie verstehe nicht ganz, was da passiere, aber es fasziniere sie, sie wolle mehr davon wisse. Sie sei „irrsinnig begeistert“ von diesem witzigen, fein gearbeiteten und auf mehreren Ebenen interessanten Text.

Vea Kaiser
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Vea Kaiser

Klaus Kastberger: Grandioser letzter Satz

Klaus Kastberger sagte, er kenne nicht alle letzten Sätze aller Bachmanntexte, aber auch er wolle mit dem grandiosen letzten Satz von Guses Text beginne. Toblerone sei für ihn schon lange unter Verdacht gestanden, es sei ihm ein Rätsel wie Toblerone zu „einem nationalen Schoki“ werden konnte. Dieser Text habe das noch einmal anders erklärt und nicht nur die Seltsamkeiten von Toblerone, sondern auch die Seltsamkeit der Welt in der wir leben. Auch dieser Text sei ein Text über die Jetztzeit, über das Anthropozän, nur der bevorstehende Weltuntergang tauche für ihn in anderer Form auf, fast homöopathisch.

Klaus Kastberger Benito Oliva
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Klaus Kastberger

Der Text habe einen unglaublichen Witz. Das in einer der durchexerziertesten Gegenden der Welt ein Volk leben soll und den Frankfurter Flughafen nachbaut, auf diese Idee müsse man erst einmal kommen, so Kastberger. Der Text führe Probleme, die die Menschheit habe, in einer Art und Weise vor, die nicht zu moralisierend ist, das bringe ihn mehr zu denken als die Moralkeule. Für Kastberger sei es ein „grandioser Text“, der auch im sterilen Studio für Amüsement gesorgt habe.

Insa Wilke: Gerät ins Absurde

Insa Wilke wies darauf hin, dass Juan Guse in einem Gespräch gesagt habe, dass wenn man seine Gedanken konsequent bis zum Ende denke, dann gerate man ins Absurde, das mache auch der Text. Interessant sei, wie der Text mit Störfaktoren umgehe und sich das Absurde immer mehr steigere. Bei Computerspielen spreche man von Bugs, im Text seien Störfaktoren eingebaut, so wie den Mann, der in der Pfütze verschwinde oder das Rotwild, dass sich malerisch zum Sterben hinlege. Das seien die Abgründe des Textes, dass man hier diese Lifestyle-Szenerie habe und dann immer wieder das Entsetzen in die Grafik des Textes eingespielt werde.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Fantastisch sei, wie die Gegenwart in diesem Text durchschimmere. Chile spiele im Text immer wieder eine Rolle, Wilke dachte dabei an die Verfassungsänderung in Chile, die noch nicht so lange zurückliege, so Wilke.

Delius: „Schlicht nur an der Oberfläche“

Mara Delius war Wilke dankbar, dass sie auf das Absurde hingewiesen habe. Es handle sich um einen sehr erzählerischen Text, der von einer vermeintlichen Schlichtheit auf der Oberfläche ausgehe, dann aber eine extreme Tiefe entwickle, das sei für sie das Besondere. Es sei programmatisch, was Guse mache, die neuralgischen Punkte der Erzählung werden konsequent ausgelassen, das verstärke den Eindruck des Absurden und den extremen Sog, den diese eigentlich schlichte Sprache zu entwickeln vermag, so Delius.

Wiederstein: „Gehobener Unterhaltungsroman“

Für Michael Wiederstein war das Ende des Textes im Stil eines „gehobenen Unterhaltungsroman“ gehalten. Er sehe im Text eine Exotismuskomponente, die Leute würden nach etwas suchen, an einem Ort, an dem alles schon entdeckt sei. Das Absurde könne laut Wiederstein auch noch eine andere Bedeutung haben. Er frage sich, warum hier Anthropologen, Literaturwissenschaftler und Dramatiker unterwegs seien. Er würde hier die „Klagenfurt-Parallele“ ziehen. Die Jury sei unterwegs in ihrem Basecamp, dem Studio, auf der Suche nach den „Nackten mit den Helmen auf den Kopf“.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Gleichzeitig sei der Text eine Art „Heart-of-Darkness-Geschichte im Taunus“. Wiederstein sagte, er habe das Gefühl, der Text mache sich über einen lustig. Die Künstlichkeit sei bisher noch gar nicht thematisiert worden, der Flughafen sei ein reiner Nachbau, aber das Flugzeug fährt dann doch plötzlich los, also könne es kein reiner Nachbau sein. Laut Wiederstein geht man dem Text auf dem Leim, wenn man ihn zu sehr auf der Textebene analysiert, das will der Text nicht. Er freue sich, dass sich Juan Guse einen großen Spaß mit dem Leser mache. Der Text sei wunderbar verfasst und der Spannungsbogen leite sehr gekonnt in die Irre.

Wirklichkeitsebenen werden verschoben

Brigitte Schwens-Harrant knüpfte an Wiederstein an und sah ebenfalls eine „Klagenfurt-Parallele“, diese Ebene könne man gar nicht übersehen. Generell möge sie den ethnografischen Blick in der Literatur, das gebe viel her. Guse gehe sehr originell damit um. Dennoch wolle sie auch noch eine Kritik anbringen, sie sei sich nicht sicher, ob er in der konkreten sprachlichen Durchführung vom Stil immer „so ganz grandios ist“. Im Text gebe es keine einfache Plotebene, das Kunstvolle sei, dass Guse, ohne dass man es merke, permanent Wirklichkeitsebenen verschiebe. Auf der Erzählebene gefalle ihr der Text sehr gut, in den konkreten stilistischen Sätzen würden sich aber Schwächen finden lassen, so Schwens-Harrant.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Tingler: Driftet gewollt ins Absurde

Philipp Tingler fand den Hinweis von Mara Delius sehr treffend, wonach der Text eine Sogwirkung auch durch Auslassung erziele. Im Gegensatz zu Wiederstein würde er nicht von einer Nachbildung der Welt, sondern eher von einer Spiegelung sprechen. Interessant fand Tingler einen Satz, der nicht im Manuskript stand, Guse aber gelesen habe, nämlich „sie machen alles richtig, die Form ist einwandfrei“.

Der Text habe die gewollte Tendenz, ins Absurde abzudriften, die Gratwanderung zwischen dem Absurden und dem Banalen sei sehr schwierig. Die Dialoge im Text fand Tingler ausgesprochen schlicht, die Figuren seien austauschbar und würden keine Individualität in der Art, wie sie miteinander umgehen entwickeln. Man müsse sich schon fragen, ob das alles intendiert sei. Auch die angedeutete Liebesgeschichte hätte es nicht gebraucht, weil die ganze Konstruktion dadurch trivialisiert werde, so Tingler.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Kärnten als „Herz der Finsternis“

Die „Betriebsnudelnummer“ fand Klaus Kastberger noch das Schwächste an dem Text. Dass man sich in Kärnten im „Herzen der Finsternis“ befinde, wisse man auch schon lange, in keinem anderen Bundesland sei „die Sonne vom Himmel gefallen“. Es gebe aber noch eine andere Lesart des Textes, man könne die Nachbildung des Flughafens für den echten Frankfurter Flughafen halten. Dann würde sich eine Strategie offenbaren, von der der Text auch lebe. Der Text sei so ironisch, weil er die ethnologische Perspektive auf uns selbst anwende, so Kastberger. Er habe sich gerne vorgestellt, es handle sich um den echten Frankfurter Flughafen und es seien „wir selbst, die wir uns durch eine ethnologische Brille betrachtet sehen“.