Nadine Schneider Lesung
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Nadine Schneider

Die gebürtige Nürnbergerin Nadine Schneider las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant ihren Text „Quarz“. Er dreht sich um ein Mädchen, das mit ihrer Familie in ein Dorf zog und das Idyll, aber auch die Abgründe beschreibt.

Die Hauptperson erzählt, wie sie in dem Dorf aufwächst, in das sie mit ihrer Familie, mit ihren Eltern und Großeltern zog. Es geht um Dorffeste, neugierige Nachbarn, laue Sommerabende, Thujenhecken oder gestohlene Fußmatten.

TDDL 2021 Nadine Schneider Diskussion

Kaiser: Selten schöne Schilderung des Dorflebens

Vea Kaiser eröffnete die Diskussion zum Text. Sie habe selten so schöne Schilderungen eines Dorflebens gelesen. Das Dorf werde individuell von Bewohnern beschrieben, die wissen wollen, wie viel ein Zaun des Nachbarn gekostet habe oder auch durch den Pfarrer, der komme, um nachzufragen, warum man aus der Kirche ausgetreten sei. Das habe ihr „wahnsinnig gut“ gefallen. Es gehe um das Ankommen an einem Ort, wie eine Familie versuche, sich ein Zuhause zu erschaffen. Die Motive seien „grandios gelungen“, beispielsweise die Weinrebe, die versucht, auf dem fremden Boden zu gedeihen, ohne dass Wein trinkbar wäre.

Sie sei aber mit den „temporalen Markern und der temporalen Hierarchie des Textes“ nicht mitgekommen. Sie wüsste gerne, ob ein Zustand oder eine Entwicklung erzählt werde und wo das „Ich“ stehe. Sie frage sich auch, wie alt die Erzählerin sei.

Vea Kaiser
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Vea Kaiser

Kastberger: Anspielung auf Adalbert Stifter

Jemand, der seinen Text „Quarz“ nenne, müsse wissen, dass es Adalbert Stifter und dessen Erzählung „Bergkristall“ gebe, so Kastberger. Er nehme an, dass Nadine Schneider das wisse. Er habe die Vermutung, dass Schneider etwas von Stifters Programm nehme und den Zustand der lang anhaltenden Dauer beschreibe. Der Text habe eine Form, die durchaus etwas von den Gesetztheiten des 19. Jahrhunderts habe, die Voraussetzung sei aber eine andere, so Kastberger.

Es sei kein Dorf, wo die Familie seit Generationen lebe, sondern ein Dorf, wo sie hingezogen seien. Die Familie tue dann einiges, um die „Gründungsakte zu setzen“. So bohren sie etwa einen Brunnen, das sei jedoch in eine „unglaublich schmale Zeitspanne zurückgesetzt“, wogegen der Brunnen bei Stifter vor Jahrhunderten gegraben worden sei. Kastberger sagte, er habe die Vermutung, „der Text imprägniert sich ganz bewusst mit Mitteln des 19. Jahrhunderts“. Er sei sich unsicher, wie er den Text einordnen solle und ob das geschickt sei, was er tue.

Tingler dachte an Alfred Polger

Philipp Tingler schickte an Schneider vorweg, dass er ihren Eingangsfilm sehr hinreißend fand. Er hätte sich gewünscht, dass sich etwas von der Unbehaglichkeit des Films im Text wiederfinde. Er musste an den Feuilletonisten Alfred Polger denken, aber nicht an seine Prosa, sondern an die von ihm benannte Kategorie „literarische Kost für Zahnlose“. Tingler fand den Text streckenweise sehr „uninspiriert“. Im Gegensatz zu Vea Kaiser fand er die Schilderung der dörflichen Enge nicht mehr zeitgemäß für das 21. Jahrhundert. Tingler fand den Text „insgesamt leider nicht so glücklich“.

Wilke: Formal strikt gebauter Text

Insa Wilke dachte beim Text nicht nur an Adalbert Stifter, sondern auch an H.C. Artmann, so komme man dem Text auf die Spur. Es sei laut Wilke ein formal sehr strikt gebauter Text. Das Dorf verstand sie als Metapher für das Kontinuum der Zeit. Das Dorf sei die Kontinuität, die Jahreszeiten die zyklische Zeit, so Wilke. Die Menschen seien „möglicherweise“ jene Faktoren, die Veränderung reinbringen. Ihr gefalle die „Orchestrierung“ von schweren Zeichen, wie dem Rehkitz und den Schwimmkäfern, und sehr feinen Zeichen, wie dem Achselzucken.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Der Text spreche aber auch von Rassismus, die Urgroßmutter sei eine Romni. Hier bringe Schneider das Nachdenken über Zeit – wo bleibe sie immer gleich, wo gebe es Veränderungen, zusammen mit einer außerordentlich politischen Aktualität.

Tingler erwiderte, bezogen auf den Freund vom Friedhof, von dem die Erzählerin glaube, er habe das Auto zerkratzt, dass man nicht jedes Zeichen von verschämter Liebe, sofort als Rassismus auslegen könne.

Wiederstein: Text über das Ankommen

Michael Wiederstein stimmte vielem, was Wilke sagte, zu. Tatsächlich sei es ein Text über das Ankommen, das Ankommen vollziehe sich in diesem Dorf aber derart langsam, dass man dem Wachsen des Grases zusehe. Es gebe zwei Ebenen, die Geschichtsschreibung der eignen Geschichte finde in „doppelter Buchführung“ statt. Die eine Ebene beschreibe, was passiere und dann gebe es das Tagebuch der Erzählerin als „eingeschönte Geschichtsschreibung“. Am Text störe ihn „das-Deutsch-Leistungskurshafte“ zum Thema Alltagsrassismus. Wiederstein sieht sich selbst im Schulzimmer wie er Texte durcharbeite, die genauso gemacht seien.

Michael Wiederstein bei Diskussion
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Michael Wiederstein ==

Wahrscheinlich sei es sogar eine Qualität des Textes, in diesem Kontext finde er ihn aber zu platt, so Wiederstein.

„Wie alt ist die Erzählerin?“

Mara Delius störte, dass nicht klar wurde, wie alt die Erzählerin ist. Eine klarere Beantwortung im Text würde die Frage beantworten, was für eine Form von Alltagsrassismus es sei. Sie gab Vea Kaiser Recht, dass der Text besser wäre, wenn es klarer wäre, welches Alter die Figur habe.

Für Insa Wilke ist es wichtiger, wie die Figur auf das blicke, was sie umgebe, das sei oft ein Blick des „Nicht-aussprechen-Müssens“. Das „Hinnehmen“ und das Unausgesprochene, das in der Familie passiere, finde Wilke subtil und feinsinnig.

Für Tingler sei es hingegen hochgradig konventionell.

Kaiser erwiderte, es gehe über die dörfliche Enge hinaus, deshalb sei es eben nicht der knallharte Alltagsrassismus.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Das bleibe offen, so Schwens-Harrant. Der Text sei sehr subtil, es gehe um ein Konventionskonzept mit Herkunftsklarheit, mit Ritualen und Autoritätsfiguren. Darin gehe es auch um die Frage des Ankommens und des Anpassens. Der Anfang und das Ende des Textes hängen zusammen, das Achselzucken sei dort wie da, so Schwens-Harrant. Das Bild der übermalten Mauer sei sehr wichtig, da Assimilation ebenso das Übermalen verlange, das sei eine Spur im Text. Es gebe durchaus einen Hinweis auf das Alter der Erzählerin, nämlich das Schulzeugnis. Die Spur im Text sei eine sehr poetische, die mit einem sehr zärtlichen Bild aufhöre. Die Erzählerin „ackere“ sich an das Grab der verstorbenen Urgroßmutter, die nicht von hier sei, sondern „hier her verpflanzt wurde“.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Kastberger mochte gesellschaftliche Wirklichkeit

Kastberger gefiel es durchaus gut, dass man auf gesellschaftliche Wirklichkeit, wie das Zerkratzen des Autos, mit einer gewissen Gelassenheit reagiere. Ihm gehe es aber zu weit, er bezweifle, dass man die Zeit habe, die dieser Text fordere. Für ihn sei es unerheblich, wie alt die Hauptperson sei, es gehe um andere Traditionen. Was Philipp Tingler am Text störe sei, dass Konventionen geschildert werden, wie vor 30 Jahren. Die Schilderung von dörflicher Enge sei einfach obsolet.