Lesung Leander Steinkopf
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Jurydiskussion Leander Steinkopf

Leander Steinkopf aus München las auf Einladung von Vea Kaiser „Ein Fest am See“. Ein Mann ist zur Hochzeit seiner großen Liebe eingeladen, sinniert über die grüne Spießbürgerlichkeit ihrer neuen Welt und entlarvt sich selbst als Spießbürger. Der Text führte zu Kontroversen in der Jury.

Der Ich-Erzähler findet sich auf der Hochzeit seiner verflossenen Freundin in einer Villa an einem See wieder. Um die Feier aus schmalzigen Liebesbekundungen und veganem Essen durchzustehen, greift er immer wieder zu der Flasche Whiskey, die er dem Brautpaar eigentlich als Geschenk mitgebracht hatte. Dabei erinnert er sich an die Frau, die er als rastlose Revoluzzerin kennen- und liebengelernt hatte und die jetzt einen anderen heiratet, mitten hinein in ein deutsch-bürgerliches Leben.

TDDL 2021 Leander Steinkopf Diskussion

Tingler lobte gelungenen moralischen Anspruch

Philipp Tingle eröffnete den Diskussionsreigen. Er sagte, er schätze den Text aus mehreren Gründen. Er belebe die Tradition von Gesellschaftsprosa, das tue er durch Satire. Der Text habe einen moralischen Anspruch, das passiere sehr gelungen. „Das Durscheinende der Phänomene wird akzentuiert“, so Tingler. Man habe einerseits das vegane Buffet als Sache und andererseits als Metapher für „diese gesamte, bornierte, bierbrauende, Schneidersitz-Identitätsgesellschaft, die sich in ihrer Biederkeit und Rechthaberei zusammenfindet“. Die geisthafte Pointiertheit zeichne den Text aus.

Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Philipp Tingler

Satire über gekränkte Männlichkeit

Mara Delius erwiderte darauf, sie teile die Einschätzung von Tingler in den Punkten Satire und Gesellschaftsprosa. Auf dem ersten Blick sei es eine „geschliffene Geschichte einer Enttäuschung“. Der Anfang habe etwas Filmisches, er beginne mit einem Zoom auf den Gürtel. „Wo sollte eine ironische Geschichte gekränkter Männlichkeit beginnen, wenn nicht an einer Gürtelschnalle“, so Delius.

Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

Damit beginne die Suche nach einer Erklärung, warum sie jetzt „diesen Trottel heirate“ und die Suche nach einem postmodernen Liebesverständnis. Delius sagte, sie fühlte sich streckenweise an eine Kurzgeschichte erinnert, die auch in der „GQ“ veröffentlicht hätte werden können. Der Text habe gewisse Mängel auf der sprachlichen Ebene, man nehme dem Erzähler auch die latente Aggression nicht immer ab.

Schwens-Harrant lobte letzten Satz

Brigitte Schwens-Harrant zeigte sich verwundert darüber, dass Philipp Tingler den Text für gut befand. Satire arbeite mit Klischees, sie glaube der Text sei gut gemacht. Sie fand den letzten Satz „Ich habe solche Lust zu tanzen“ besonders gelungen. Der Text habe sie unterhalten, aber er stelle keine großen Fragen, das Thema sei klar. Sie würde ihn aber nicht ein zweites oder drittes Mal lesen müssen.

Wilke fühlte sich nicht unterhalten

Insa Wilke fühlte sich nicht vom Text unterhalten. Sie meinte, der Text sei „nicht auf der Höhe der Radikalität, die sich die Figur wünscht oder sich vorstellt von sich“. Der Text beziehe sich auf einen gesellschaftlichen Kontext, in dem es ein Comeback konservativer Lebensstile gebe kombiniert mit ökofundamentalistischen Einstellungen. Sie sehe zwei Schwierigkeiten – zum einen an denen Stellen, an denen der Erzähler etwas ankündigt, merke man,wie spießig der Text sei und gar nicht radikal. Beispielsweise die Sache mit der Whiskeyflasche.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Ein Problem sei auch, dass der Erzähler davon spreche, es gehe um die Frau. Man wisse aus Filmanalysen, dass es ein Problem sei, wenn behauptet werde, es gehe um Frauen, „diese Frauen aber nur schön in die Kamera gucken dürfen und leider aber nur kaum ein Wort sprechen“, so Wilke. Sie wünschte sich, der Text hätte mehr „kontrolliertes Chaos“. Die Motivebene sei „sehr ordentlich“ – beispielsweise es werde ein Duell angekündigt, das dann nicht stattfindet.

Kaiser unterbrach Jurykollegen

Vea Kaiser unterbrach Michael Wiederstein, der an der Reihe war und erklärte den Jurykollegen, dass Wilkes Kritik auf einem fundamentalen Missverständnis aufbaue, nämlich, dass der Erzähler ernstzunehmen sei. Er werde in seiner „Disney-Prinzen-Romantik“ entlarvt, indem er meint, wenn niemand zuschaue, würde sich die Frau ihm hingeben. „Das ist eine Darstellung der männlichen Selbstüberhöhung“, so Kaiser. Er glaubt, es gehe um ihn und wolle zeigen, welch „toller Hecht“ er sei. Der Erzähler ist laut Kaiser aber „ein Ungustl“. Er sehe sich selbst ein Held, sei aber genau der gleiche Spießer wie die anderen, er sei sogar der größte Spießer von allen.

Michael Wiederstein
ORF/Johannes Puch
Michael Wiederstein

„Fantastischer Erzähler“

Wiederstein kam dann doch zu Wort und meinte, es sei ein misogyner, gekränkter Typ, der den bürgerlichen Lebensentwurf kritisiert, aber selbst kleinbürgerlich ist. Er outete sich als „Team Tingler-Kaiser“ und finde den Text auch sehr gut. Und das wegen des Twists, dass ein misogyner, gekränkter Typ, der den „grünbürgerlichen Lebensentwurf“ kritisiere. Das sei aber selbst eine kleinbürgerliche Perspektive. In seiner Bitterkeit habe der Ich-Erzähler eine gewisse Sympathie. Leander Steinkopf sei ein fantastischer Erzähler. Der erste und der letzte Satz seien die besten des ganzen Textes, so Wiederstein.

„Kein Team Tingler-Kaiser“

Tingler stellte gegenüber Wiederstein in Folge fest, „es gibt kein Team Tingler-Kaiser“. Der Text habe auch „schwache Momente“, so Tingler, wo er „seltsam obsolet wird“, was teilweise auch „Kitschigkeit“ mit sich bringe. Die Szene mit der Türklinge sei für ihn ein „70er-Jahre-Schlagermotiv“. Wenn es darum gehe, die Intensität des Liebesgefühls zu schildern, werde es seltsam unbeholfen, das sei das einzige, das ihn am Text störe.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Vea Kaiser und Philipp Tingler

Das Gefühlsleben des Protagonisten sei ein Klischee, warf Vea Kaiser ein. Das sei furchtbar und das sei das Großartige, dass der Erzähler nicht als Held dargestellt werde, sondern genau mit den Klischees behaftet, die er den anderen vorwirft. Großartig an dem Text finde sie auch, dass der Text zum Lachen anrege. „Was gibt es schöneres, dass Literatur uns zum Lachen bringt“, so Kaiser.

Tingler konterte, er finde ihre Analyse nicht richtig. Es gebe eine emotionale und eine diskursive Ebene, über Texte zu sprechen, aber man habe den Anspruch, Texte zu analysieren. Insa Wilke mahnte, man dürfe auch laut denken in der Jury und müsse nicht gleich von der Seite angepöbelt werden, in Richtung Tingler.

Kastberger: Sprachlich gelungen

Klaus Kastberger fand es „gut“, dass der Text „auf Augenhöhe daherkommt“. Er plustere sich im Vorfeld nicht auf, auch sprachlich sei er gelungen. Er habe Leander Steinkopf nicht gekannt und habe zuerst gedacht, der Name sei ein Pseudonym für die linke Politikerin Sahra Wagenknecht. Es werde im Text genau das gesellschaftliche Biotop beschrieben, indem sich der Erzähler befinde, das legitimiere den Ton des Textes. Kastberger störte nur die Forciertheit, mit der der Text gelesen wurde, das habe der Text nicht nötig gehabt.