Lesung Leander Steinkopf
ORF
ORF

TEXT Leander Steinkopf (D)

Leander Steinkopf liest auf Einladung von Vea Kaiser den Text „EIN FEST AM SEE“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Ein abgerissener Hosenknopf verborgen hinter einer großen Gürtelschnalle, das ist diskrete Libertinage, denke ich mir, als ich mein Hemd im Hosenbund richte. Ich stecke mir die Zigarrenhülse in die Innentasche des Jacketts, hole das Geschenk aus dem Kofferraum und werfe die Klappe zu. Bis zuletzt hatte ich überlegt, ob ich kommen soll, aber dann war mir klar geworden, dass es nicht um mich geht bei dieser Entscheidung, sondern um dich, dass ich dich nicht allein lassen darf an diesem Tag.

Ich nehme den Kiespfad zur Villa, und du kommst mir gleich auf den Stufen zum Eingang entgegen. Du strebst in meine Richtung, aber lässt es so aussehen, als läge ich bloß zufällig auf deinem Weg. Du umarmst mich flüchtig, schützt Eile vor. Über deine Schulter sehe ich den Grund: Im Eingangsportal steht er und beobachtet uns. Ich schaue dir kurz nach, dann hinauf zu ihm, der seine Arme so weit ausgebreitet hat, dass kein Weg an ihm vorbei führt. Er umfasst mich wie man Fässer hebt, dann klopft er mir auf den Rücken, als wäre ich im Bärenfell angereist. Dabei kenne ich ihn gar nicht, habe ihn höchstens zweimal gesehen. Ich habe gehört, dass er Handstand kann und Flickflacks, dass er ungeheure Kraft hat in seinen dünnen Angestelltenarmen. Seine Umarmung hat die Zigarrenhülse so fest an mich gepresst, dass ich einen schmerzhaften Abdruck spüre, quer über die linke Seite der Brust. Nun zieht er mich am Oberarm in die Empfangshalle. Ich kann gerade so im Vorbeigehen das Geschenk auf dem Gabentisch abstellen, bevor er mich weiter in die Küche führt, wo er mir lächelnd eine braune Bügelflasche präsentiert. „Das ist was für uns“, sagt er und ich wünsche mir nur, dass er diesen Buddy-Blödsinn sein lässt. Vor hundert Jahren hätten wir uns duelliert, und heute will er sich mit mir verbrüdern.

Er sagt, das Bier habe er selbst gebraut, nennt Gersten, Hopfen und Hefen beim Namen mit einer Begeisterung, als wären sie die Variablen der Weltformel. Dann füllt er zwei Gläser und reicht mir eins. Es sei ganz frisch und ungefiltert und eigentlich habe es nie richtig aufgehört zu gären, sagt er. Wir stoßen an, ich nehme einen Schluck, und tatsächlich schmeckt es nicht schlecht. Er sagt, man dürfe nur ein oder zwei Gläser trinken, sonst – anstatt weiterzusprechen, streicht er sich mit besorgter Miene über den unteren Bauch. Ich nehme noch ein Schlückchen, stelle das Glas auf einer Arbeitsfläche ab und rühre es nicht mehr an. Warum soll ich mit einem Getränk überhaupt anfangen, wenn ich nach zwei Gläsern wieder aufhören muss? Er fragt mich, wie die Reise war und wie das Leben geht, und langsam scheint es, als ob er ernsthaft glaubt, dieselbe Frau zu lieben, sei etwas, das uns verbindet.

Er sagt „Schön, dass du da bist!“ und weist mir den Weg durch die Empfangshalle auf die Veranda, von der aus man auf eine große Rasenfläche blickt und einen See dahinter. In meinem Magen brodelt es wie in einem Braukessel. Ich bin schon hungrig angereist und nun macht sich das gärende Bier in meinem leeren Magen breit. Am Geländer steht ein junger Mann in einem kantigen grauen Anzug, den frage ich, ob es schon etwas zu essen gibt. „Hast du denn nichts mitgebracht?“, fragt er zurück und weist auf die Rasenfläche vor uns, an deren Seite schon Zelte aufgeschlagen sind und in deren Mitte Kleinfamilien Picknickdecken ausgebreitet haben. Sie haben ihre Boxen geöffnet, ihre Pakete ausgewickelt, Platz genommen und mampfen ihre Reissalate und Cocktailtomätchen, Schulter an Schulter wie eingemauert.

Da mietet ihr dieses weiße Gemäuer aus Säulen und Sälen und Simsen, und dann servieren nicht livrierte Kellner Champagner, sondern es gibt ein Tupperdosenpicknick auf dem Rasen, und die Hälfte der Gäste schlägt draußen Zelte auf? Es hätte mich nicht gestört, hättest du so eine neurotische Standesamtshochzeit mit trockenem Stehsekt vor der Betontreppe gemacht, damit niemand auf die Idee kommt, ihr wärt romantisch veranlagt. Ich hätte auch eine Hochzeit in Weiß akzeptiert, mit allem Pomp, weil du dir einen Kleinmädchentraum erfüllen wolltest, von dem du mir nie erzählt hattest. Aber das hier? Weißt du eigentlich, dass du, bis ich von der Hochzeit erfuhr, die Person warst, die mich im Leben am wenigsten enttäuscht hat? Und wahrscheinlich stört es mich gar nicht, dass du bald verheiratet sein wirst und es auch noch ernstnimmst. Ich fürchte nur, dass ich nach Hause fahren werde in dem Wissen, mich in dir getäuscht zu haben.
Zumindest kann ich trinken. Einen Chardonnay hätte ich gern, eiskalten Rosé oder Gin Tonic, aber auf dem langen Getränketisch, in den Eiseimern und den Kühlschränken gibt es nur Apfelmost, selbst vergoren aus den Früchten der Streuobstwiese mit Gartenhäuschen, die ihr außerhalb der Stadt gepachtet habt. Es gibt sogenannten Naturwein, der überhaupt nicht nach Wein schmeckt, aber sehr nach Natur. Und es gibt das hausgemachte Bier, das in den Gläsern der Gäste gärt, das nicht absteht, sondern umso mehr sprudelt, je wärmer es wird. Ich nehme mir ein leeres Glas, gehe damit zur Toilette, fülle es am Waschbecken und stürze es in einem Zug runter. Draußen auf den Picknickdecken kauen die Kleinfamilien, Kinder springen auf, rennen und lachen, als hätte man zumindest ihnen anständige Getränke ausgeschenkt.