Rede zur Literatur von Anna Baar
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Rede zur Literatur von Anna Baar

„Die Wahrheit ist eine Zumutung“ zum Nachlesen in einer Kurzfassung. Die vollständige Version finden Sie als .pdf am Ende des Textes verlinkt.

Was es bedeuten konnte, seine frühe Jugend in dieser Stadt zu verbringen, haben Sie schon gelesen. Ich will die Geschichte fortführen. Wir schulden den Jungen heute inzwischen ein weiteres Kapitel.

Rede zur Literatur

Die Mutter ermahnte uns immer zum Leisetreten. Die Vermieterin, sie wohnte unter uns, konnte es nicht leiden, wenn der Parkettboden knarrte. Und wenn sie die Mutter anhielt, um ihr damit zu drohen, uns aus dem Haus zu schmeißen, schickte die uns zum Greißler, Bonbonieren zu kaufen. Damit mussten wir vor der Hausherrin strammstehen und um Vergebung bitten.
Ich weiß nicht, was daran wahr ist, aber ich könnte schwören, es so erlebt zu haben, sooft ich bei Ingeborg Bachmann von Kindern in Strümpfen lese, darauf abgerichtet, die Ruhe des Hausherrn zu wahren. Und was es heißen mag, in dieser Stadt aufzuwachsen, im Henselstraßenland, das ich in ihren Worten, durch ihre Augen gesehen, als mein eigenes erkannte und wieder und wieder erkenne, wenn ich an schönen Tagen den Umweg ins Stadtzentrum nehme, vorbei am einstigen Zoo, den zwei gefangenen Bären meiner Erinnerung, vorbei an den Gärten mit den Ribiselsträuchern, Rosen und alten Apfelbäumen, und am kleinen Teich, der heute selten so zufriert, dass man darauf Schlittschuh laufen oder bezeugen könnte, wie Bomben sein Eis hochjagen.
Auch in den geräumigen, zentralbeheizten Häusern in unmittelbarer Nähe, auch sie stehen verewigt in Ingeborg Bachmanns Erzählung und stehen in Wahrheit vergänglich, spielten die Kinder in Strümpfen. Auch für sie konnte alles mit tödlichen Schüssen enden. Die Schilderung einer Jugend in einer Stadt wie dieser lässt sich tausendfach fortführen und jedes Kapitel läuft ins Unendliche weiter: Geschichten vom weißen Tod, von selbstausgehobenen Kellern, von Häusern, in denen die Furcht vor Entäußerung nistet, Kopfläusen, Tränen, Tadel. Immer sind es die Kinder, die sich zu Tode fürchten, da ihre Worte nicht gelten. Und wenn es nun an mir ist, die Fäden aufzunehmen, sei von jenen berichtet, die man zum Schweigen brachte in der Schule des Anstands. Einmal meldeten welche, der Nachbar, ein hohes Tier, recke den nackten Hintern aus seinem Wohnzimmerfenster. Die Polizei fand heraus, wer sie gerufen hatte. Dann mussten die Übeltäter den angeblich Bloßgestellten um Entschuldigung bitten und zu Protokoll geben, die Sache erfunden zu haben. Die Frage war nicht, was stimmte, sondern wer etwas sagte.
Kindsein hieß mitunter, am Baum der Erkenntnis zu rütteln, obwohl man mit jedem Mal, da seine Fünffingerfrüchte auf einen niedergingen, ein Stück weit vom Glauben abfiel. Die Wahrheit gehörte dem, der am längeren Ast saß. So lernten die Kleinen das Schummeln und dass im Schweigen der Großen gefährliche Dinge hausen, nach denen man besser nicht fragte. Es hieß, sie verrückten einen, und so, dass man nachts wieder einnässt. Wie der scheue Bub, den sie Bettbrunzer nannten. Hier soll er Felix heißen.

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