Elias Hirschl
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Elias Hirschl, A

Der Österreicher Elias Hirschl las auf Einladung von Klaus Kastberger den Text „Staublunge“. Darin begleitet er eine Onlinejournalistin, die eine Beziehung zu einem vom Ehrgeiz zerfressenen Start-Up-Unternehmer hat. Außerdem geht es noch um den Streik von Lieferfahrern.

Die Ich-Erzählerin schreibt für ein Onlineportal belanglose Artikel wie über die lustigsten Tiermomente des Jahres. Sie hat eine sexuelle Beziehung zu Jonas, der ein Start-Up in einer alten Fabrikhalle führt. Er ist traumatisiert vom Tod seiner Mutter, die fünf Minuten, bevor er mit ihren Einkäufen nach Hause kam, starb. Seither ist er besessen davon, alles noch schneller zu erledigen und noch schnelleren Service zu bieten.

Gegessen wird in der Redaktion nur auf Bestellung bei Essenslieferanten. Doch die Fahrradboten begehren auf, wehren sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und beginnen zu streiken. Sie werden alle gekündigt und brennen schließlich die Zentrale des Lieferdienstes nieder. In der Redaktion herrscht Chaos, weil alle gewohnt sind, ihr Essen geliefert zu bekommen.

Lesung Elias Hirschl
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Elias Hirschl

Tingler: Text „so mittel“

Die Diskussion wurde von Philipp Tingler eröffnet. Er fand den Text „so mittel“. Als er das das letzte Mal über einen Text, den Klaus Kastberger eingeladen hatte, gesagt habe, hätte der den Bachmann-Preis gewonnen. Hirschl habe also noch alle Chancen, so Tingler. Der Text sei von einer eindeutigen Botschaftsabsicht getragen, viele Sachen seien gelungen.

Ihm gefalle die Erzählinstanz, eine „restbetrunkene, notkoffeinierte 31-Jährige“, quasi eine „Ingeborg Bachmann des spätmodernen Schreibprekariats“. „Gut“ sei auch, wie der Zustand der Kultur, die entfremdete Arbeitswelt und die entseelte Beziehungsanbahnung im Text dargestellt werden. Tingler sagte, er habe den Eindruck, Hirschls Text wäre noch besser geworden, wenn er halb so lange gewesen wäre. Irgendwann hätte er die Botschaft verstanden gehabt und es sei unnötig gewesen noch mehr Phrasen aus der „spätdigitalen Plattformökonomie“ zu hören. Es sei ähnlich wie mit dem „herrlichen Sketsch von Frau Genschel“, irgendwann werde es ermüdend und redundant. Hirschls Text sei zwar nicht zeitlos, aber er sei auch nicht schlecht.

Insa Wilke mit Michael Wiederstein und Vea Kaiser neben Philipp Tingler
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Insa Wilke, Michael Wiederstein, Vea Kaiser, Philipp Tingler

Delius sah lakonischen Stil

Für Mara Delius beeindrucke der Text durch das Spiel der Floskeln, wie z.B. „Man macht keinen Verlust, man macht weniger Gewinn“. Sie habe das weniger gestört als Tingler, weil Hirschls Stil ein sehr lakonischer sei. Das fände sie sehr geeignet, um jene Art von „vielleicht post-kapitalistischer Gesellschaftskritik“ vorzubringen und teilweise verächtlich zu machen. Wie auch Tingler fand Delius, dass der Text am Ende etlichen Längen hätte, die es für sie nicht gebraucht hätte, das schwäche den Text.

Vea Kaiser war Text zu lang

Vea Kaiser schloss sich ihren beiden Vorrednern an, auch sie hätte den Text ein wenig zu lange und redundant gefunden. Das liege vor allem daran, dass das Stilmittel der Übertreibung nicht immer ganz geglückt sei. Das störe sie aber nicht allzu sehr. Kaiser habe keine eindeutige Botschaftsabsicht herausgelesen, man habe im Text z.B. nie gezeigt bekommen, dass die Figur eine Frau sei. Die Hauptfigur könne für Kaiser genau so gut ein Mann sein.

Vea Kaiser
ORF
Vea Kaiser

Tingler sagte, nein, denn "sie ist auf Tinder, wenn sie ein Mann wäre, dann wäre sie auf Grinder“. Da kenne sie sich zu wenig aus, antwortete Kaiser. „Offenbar, das ist jedenfalls der Hinweis“, so Tingler weiter.

Das Großartige an Hirschls Text sei für sie, so Kaiser, dass er ein „herrlich apokalyptisches Endzeitszenario entwirft“. Man habe eine postindustrielle Welt, in der der Raubbau an der Natur abgeschlossen ist und trotzdem sei der wunderschöne Mythos des Einhorns präsent. Die Figur des Jonas sei der letzte ironische Mensch in einer Welt, in der alle bereits an die Ironie verloren gegangen seien. Der Text habe eine sehr österreichische Weise den Weltuntergang zu zeigen, man könne trotzdem noch lachen. Das finde sie irrsinnig gelungen und habe sie sehr begeistert, so Kaiser.

Insa Wilke stolperte über Bagger

Insa Wilke bemerkte, dass sie über ein Detail im Text gestolpert sei, nämlich das Motiv des Baggers. Diese tauche am Anfang und am Schluss auf. Sie sei auf ein Youtube-Video gestoßen, wo ein Mini-Bagger für eine Fangemeinde gefilmt werde. Der Mini-Bagger werde im Video vorgeführt und es gebe ein Kommentar eines Fans darunter, nämlich: „Schade, dass man den Baggern kaum hört, die Musik stört tierisch“, so Wilke lachend.

Insa Wilke und Michael Wiederstein
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Insa Wilke und Michael Wiederstein

Sie habe sich kurz gefragt, ob Hirschl dieses Video aufgenommen habe. Daraufhin meldete sich Hirschl zu Wort und meinte, er habe es nicht aufgenommen, aber er kenne es, es sei großartig. Das Video passe laut Wilke zum Text und zu der Frage, wie die Rahmenerzählung mit der Binnenerzählung bzw. der Jonas-Erzählung zusammenpasse.

Wiederstein hat zwei Probleme

Michael Wiederstein sprach in seiner Kritik die Szenerie des Textes an. Er finde sich irgendwo zwischen „Zombiefilm-Ästhetik und Ruhrgebietsbrachen“. Hirschl sei ja bis vor kurzem Stadtschreiber in Dortmund gewesen, damit sei die Szenerie gesetzt. Die Staublunge komme natürlich auch aus den Zechen, so Wiederstein. Er finde, dass diese Szenerie gegeneinander geschnitten mit der Startup-Euphorie und den obskuren Produkten im Hintergrund, sehr gelungen sei.

Wiederstein sieht „Untertreibung“

Wäre Hirschl dabeigeblieben, wäre Wiederstein mit dem Text völlig einverstanden gewesen, der Text habe jedoch ein fundamentales Problem: Der Humor, der hervorgehoben werde, sei zwar ganz nett, die Gig-Economy sei in Wirklichkeit aber noch viel lustiger als im Text beschrieben. Was man im Text vorfinde, sei keine Übersteigerung der Phrasen der Gig-Economy, sondern eigentlich eine Untertreibung. Das zweite große Problem, das Wiederstein mit dem Text hatte, seien die Tonschwankungen. Hin und wieder kämen leicht voyeuristische „Armuts-Pornoszenen“ darin vor, wo er das Gefühl hätte, dass sich nicht nur der Erzähler über die offensichtlichen Idioten erhebe, sondern dass das auch ein wenig der Modus des gesamten Textes sei.

Mara Delius schloss daran an, der Punkt den Wiederstein angesprochen habe, führe weg vom eigentlichen interessanten Punkt des Textes, nämlich der lakonischen Sprache. Es gebe nichts moralisierendes, sondern eine elegante Lakonie, die den Text durchziehe. Die alte Frau am Ende sei für sie zu viel gewesen.

Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Schwens-Harrant: Text auch tragisch

Laut Brigitte Schwens-Harrant führt der Text thematisch in das „Herz der Finsternis“. Sprachlich funktioniere der Text sehr gut, auch vom Tempo her. Sie wisse gar nicht, ob der Text so humorvoll sei, er sei nämlich auch sehr tragisch. Die Tragik entstehe durch Oppositionen im Text, Fakt und Wort würden „aneinanderknallen“. Was sie originell fand, sei der Gedanke des Carpe Diem, der hier pervertiert werde. Der Text sei sprachlich gut gearbeitet, aber es sei erwartbar, wo der Text hinführe.

Kastberger und die New-Economy

Klaus Kastberger stellte sich die Welt vor, in der Michael Wiederstein lebt, wenn er die Szenen im Text für untertrieben halte. Er habe noch nie einen Vertreter der New-Economy gesehen, der vom Krankenwagen abgeholt werde und sich sein Blut mit dem Rote-Beete-Saft mische, er dann aber immer noch davon rede, warum er das mache. Wenn das keine Übertreibung sei, dann wisse er nicht, wie die Verhältnisse der New Economy in der Schweiz gerade sind.

Interessant sei laut ihm, dass dieser Text durch neueste Entwicklungen in der Weltpolitik eine unglaubliche Gegenwärtigkeit bekomme, die der Autor noch gar nicht wusste, als er ihn schrieb. Kastberger stellte hier vor allem auf die Diskussion ab, wie man aus der Gas-Abhängigkeit herauskomme und die Diskussion in Österreich, ob deswegen der Kohleabbau forciert werden sollte. Dazu passe auch der Bagger im Text.