Dana Vowinckel Lesung
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TEXT Dana Vowinckel (D)

Dana Vowinckel liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Gewässer im Ziplock“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

1.
Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend. Sie hatten ihn überreden müssen.
Er hatte am Kopfende gesessen, der Raum war völlig überfüllt gewesen, kaum genug Stühle hatte es gegeben für alle. Er hatte gesagt, dann wäre es wohl besser für ihn, gleich zu gehen, aber sie wollten, dass er blieb und am Kopfende saß, bei den Gabbaim. Sie hatten ihn beobachtet, dabei, wie er beim ersten angebotenen Wodka nickte, danach aber dankend ablehnte, wie er sorgfältig mit dem Plastikmesser und der Plastikgabel das Essen zerschnitt. Er sah ein bisschen zu groß aus für den Stuhl, auf dem er saß.
Es hatte drei Gänge gegeben: Hummus und Salat, dann etwas mit Curry, dann Kuchen, alles vom koscheren Catering. Das Gemüse schien ihm besonders gut zu schmecken, er nahm sich zweimal.
Er hatte höflich gelacht, wenn jemand etwas Lustiges gesagt hatte, und Fragen nicht ein- aber auch nicht vielsilbig beantwortet. Sie wussten nun, er wohnte in Prenzlauer Berg, schon lange in der gleichen Wohnung, deswegen war sie weiterhin günstig, ja, es war schlimm mit den Mietpreisen in Berlin, er hatte Glück gehabt. Sie hatten ihn gefragt, wo er vorher gewohnt hatte und er hatte „Hannover“ geantwortet, dabei wussten sie doch um seinen Akzent.
Sie hatten versucht, mit ihm über den Zentralrat zu lästern, aber er hatte anscheinend keine Probleme mit dem Zentralrat.
Von Nahem sah er müde aus.
Er ging noch vor dem Tischgebet, verabschiedete, bedankte sich, nickte nochmal allen zu, wünschte einen friedlichen Schabbes.
Danach waren sie sich einig, dass er spannend war, der Kantor, aber auch freundlich, und die schönste Stimme von allen hatte er. Ein Segen, den man nicht zu sehr hinterfragen sollte.
Sie fragten sich, ob er einsam war, dort, wohin er zurückging. Ob dort jemand wartete. Er trug keinen Ring, aber was bedeutete das schon, es trugen weniger Leute Ringe, als es Leute gab, die einsam waren.

2.
Am lautesten war es immer direkt vor dem Gebet. Um 19:03 Uhr begann es im Sommer, 18:03 im Winter, manchmal 19:07, 18:07. Pünktlich fünf Minuten vor der vollen Stunde trat er durch die Sicherheitsschleuse, die Kerzen mussten noch gezündet werden, das machte eine Frau, die er nie auf die Uhr schauen sah, ob es Zeit war, sie wusste es, sobald er eintrat. Er nickte dann höflich, wenn die Kerzen flackerten, und trat an die Bima, lauschte dem Gerede, den Nachrichten von Kindern, die geboren wurden, von Partnern, die mitgebracht wurden, von Belanglosem und Belangvollem, von Tod und von Leben. Das Gerede wurde immer lauter, je länger nach der vollen Stunde, desto lauter wurden die Leute, als gelte es, das Gebet, für das sie gekommen waren, zu verhindern. In Ausnahmefällen musste gewartet werden, dass es genug Männer gab, um ein Gebet zu halten. Es wurde viel gestritten, ob man nicht die Frauen auch zählen sollte, aber bis heute setzten sich ein paar der Alten durch, der Männer, die wollten, dass die Dinge blieben, wie sie waren, er mischte sich nicht ein. Er wurde bezahlt für seine Stimme, für das Aufbrechen des Geredes, für das Leiten des Gesangs, nicht für seine Meinung zu kleinpolitischen Belangen. Vielleicht auch großpolitische.
Wenn er das erste Mal an diesem Schabbat tief Luft holen würde, dann würde es noch keiner hören können, auch er selbst nicht. Die ersten Worte des ersten Liedes würden noch untergehen, und dann, so stellte er es sich nun vor, würden hinter seinem Rücken ein paar Augenlider langsamer blinzeln und denken: jetzt ist Ruhe, jetzt ist Pause. Wenn er sich zu den Betern drehen würde, würde er schüchternes Lächeln sehen und jemand würde schief miteinstimmen, weil es so schön war. Jedid Nefesch, sang er, Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, ziehe deinen Diener zu Deinem Willen, dass er zu Dir hinlaufe wie die Gazelle, niederfallend angesichts Deiner Pracht, Deine Freundschaft sei ihm angenehmer als Honig und alle Köstlichkeiten. Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Partner seiner Stimme. Während er sang, tröpfelten weiter die Beter hinein, suchten sich ihre Reihen aus, ihre Freunde, ihre Eltern und ihre Lieben, nickten und blinzelten, signalisierten so: es ist Schabbat. Er sang ihnen die Ruhe herbei. Es war sein liebster Moment, wenn auch nicht die schönste Melodie oder die poetischste Piyut. Man stellte die Schuhe ab nach einem langen Spaziergang und hielt die Hände an ein Glas warme Milch mit Honig, wenn man vom Geliebten der Seele singen durfte. Am Ende des Liedes waren alle ganz still. Das Gebet konnte beginnen.