Lukas Maisel
WDW-Film
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TEXT Lukas Maisel (CH)

Lukas Maisel liest auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Anfang und Ende“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Er und Sara waren auf dem Weg zu ihren Eltern und er dachte sich Geschichten aus, wie sie sich kennengelernt hatten. Er meinte, es sei keine gute Geschichte, sich auf einer Dating-App gefunden, sich in einem Bistro getroffen, sich auf einer Bank in der Nähe geküsst und in einem feierlichen Moment gemeinsam die App gelöscht zu haben.
„Wir könnten deinen Eltern sagen, dass du über mich gestolpert bist“, sagte er, „als ich auf dem Trottoir meine Schuhe gebunden habe. Oder dass du mich in der Bibliothek mit einem dieser Rollregale fast aus Versehen zerquetscht hättest. Oder dass du mich im Bus angeniest hast.“
„Warum bin ich die tollpatschige Figur in all deinen Geschichten? Warum stolperst du nicht über mich?“
„Es spielt keine Rolle, wer über wen stolpert.“
„Jede andere Geschichte findest du besser … ich wusste nicht, dass es dich so sehr stört, wie wir uns kennengelernt haben.“
Ihre Eltern hatten beide Kennenlerngeschichten, die erzählenswert waren. Saras Eltern hatten zur selben Nachtstunde ihre Kleidung von der chemischen Reinigung abgeholt, ihre Mutter, die damals noch nicht ihre Mutter war, schaute, wie immer, auf die Hände des Mannes. Ein Mann, dessen Nägel zerkaut waren, war nichts, wonach sie suchte: das wies auf ungelöste Spannungen hin und niedrige Selbstbeherrschung. Ein Ring am Finger war beinahe noch schlimmer. Dieser Mann, der seinen taubengrauen Anzug abholte, trug zwar keinen Ring, war aber verheiratet, wie sie später erfahren sollte, und sie würde ihn zwei Jahre lang bitten müssen, seine Frau zu verlassen, bis er es schliesslich tat.
Seine Eltern hatten sich in einem Hotel am Vierwaldstättersee kennengelernt, wohin sein Vater aus Lugano gekommen war, um als Sous-chef zu arbeiten. Seine Mutter kontrollierte, als Assistentin des Hotelmanagers, die Reinigung der Zimmer. Zum ersten Mal sahen sie sich beim Mittagessen, das die Angestellten im Restaurant nach den Gästen einnahmen, und bald besuchten sie sich in den Zimmerstunden auf ihren kleinen Zimmern. Seine Mutter hatte ihn mehrfach wissen lassen, dass er in diesem Hotel gezeugt worden war. Er kannte niemanden, der auch wusste, wo er gezeugt worden war, und er versuchte, nicht daran zu denken. Wenn er doch daran dachte, dann an ihre nackten Körper, an das Stöhnen seiner Mutter, an Flüssigkeiten, die den einen Körper verliessen und vom andern aufgenommen wurden, an befleckte Bettwäsche. Aber immer noch besser als das, was sich künstlich gezeugte Menschen vorstellen mussten: Reagenzgläser, Petrischalen, Pipetten. Er fragte sich, ob im Moment, in dem er empfangen wurde, etwas Aussergewöhnliches passierte: ob eine Glühbirne flackerte, ob ein Blitz in den See einschlug, ob ein Singvogel eine Melodie sang, die er eigentlich nicht sang. Aber wahrscheinlich war nichts davon geschehen, er wollte bloss, dass es geschehen war, um sich besonders zu fühlen. Hatte seine Mutter sich besonders gefühlt im Augenblick seiner Empfängnis? Ein weiblicher Orgasmus war für eine Empfängnis nicht nötig, aber er hatte irgendwo gelesen, dass die orgasmischen Kontraktionen helfen sollen.
„Es ist nur eine Geschichte, ich weiss. Aber… was würden wir unseren Kindern erzählen?“ sagte er und bereute es noch im selben Augenblick.
„Stellst du dir manchmal vor, mit mir Kinder zu haben?“
Er nickte.
Sie lächelte.
Es war keine Lüge, aber auch nicht die Wahrheit. Wenn er mit einer Frau schlief, stellte er sich zwanghaft vor, sie unabsichtlich zu schwängern und bei ihr bleiben zu müssen. Nicht, weil sein Kinderwunsch so stark war, im Gegenteil: aus demselben Grund stellte er sich beim Klettern in Felswänden manchmal vor, zu fallen. Das liess ihn seine gegenwärtige Situation umso mehr schätzen und die Sicherheitsmaßnahmen ernstnehmen.
„Gibst du ihnen auch Namen?“