Autorin Nava Ebrahimi
Clara Wildberger
Clara Wildberger

TEXT Nava Ebrahimi (A)

Nava Ebrahimi liest auf Einladung von Klaus Kastberger den Text „DER COUSIN“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Das Foto seines Körpers bedeckt meterhoch die Fassade des Lincoln Center.
„Wie findest du es?“, fragt er mich.
„Wow“, sage ich. Ohne den Blick abzuwenden, steige ich aus dem Taxi. Der Wind hebt meinen Schal. „Nackt siehst du ja noch besser aus!“
Das Foto ist in Schwarz-Weiß, und er trägt nichts außer sehr kurzen, engen Shorts. Vor dem grauen Hintergrund hebt sich sein Körper ab wie eine Figur aus Silber, jeder einzelne Muskel klar und mühevoll herausgearbeitet. Ein Bein hat er angewinkelt, das andere ausgestreckt, gespitzt bis in den Fuß. Der Fuß berührt den Boden nicht. Mein Cousin scheint zu schweben und blickt besorgt zu uns herunter. Ganz leicht zeichnet sich eine Zornesfalte ab. Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts.
„Wieso guckst du da so ernst?“, frage ich.
„Tanz ist eine ernste Angelegenheit“, antwortet er.
„Du hast ja gar kein Brusthaar. Musstest du dich für das Foto am ganzen Körper rasieren?“
„Du bist süß“, sagt er. „Gehen wir, die Vorstellung ist aus, und ich will dir jemanden vorstellen.“
Vor dem Eingang halten wir beide inne. Durch die Glasfassade des Theaters dringt warmes Licht zu uns heraus. Drinnen, weit drinnen in dem palastartigen Foyer, sehen wir Männer und Frauen mit Sektgläsern stehen.
„Von außen hat es so etwas Heimeliges“, sagt mein Cousin.
„Von außen sieht es so schön aus, wie es drinnen niemals sein kann“, sage ich. Einen Moment lang verspüre ich den Wunsch, draußen zu bleiben.
„Komm“, sagt er. Am Ärmel meines Mantels zieht er mich hinein.
Der junge Mann, den mein Cousin zur Begrüßung auf den Mund küsst, ist noch ein wenig kleiner als er selbst und heißt Nick. Nick schaut mich an und gleichzeitig auch nicht, sein Blick hält sich nirgends lange auf. Sein ganzes Gesicht ist zu einem Lächeln verzogen. Die Zähne sind gebleacht. Er sagt etwas, aber es ist nichts, das eine Antwort verlangt, dann verschwindet er in der Menge. Wir blicken ihm nach, und ich hasse ihn. Er ist Amerika für mich. Er wird meinen Cousin vögeln, als betriebe er Hochleistungssport, aber er wird ihn niemals lieben.
Mein Cousin nimmt mir den Mantel ab. „Bin gleich wieder da“, sagt er.
„Ein Drink wäre toll“, rufe ich ihm hinterher.
Ich stehe allein am Rand. Ich sehe Statement-Ketten. Graues Haar mit Sidecut. Budapester mit Kreppsohlen. Ich beobachte Nick, wie er sich mit einem älteren Paar unterhält. Ständig reißt er die Augen auf, ich kann nicht lange hinsehen.