Lesung Carolina Schutti
WDW Film
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Jurydiskussion Carolina Schutti

Carolina Schutti aus Innsbruck las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text „Nadjeschda“. Die Jury diskutierte nicht nur über den Text sondern war auch mit sich selbst beschäftigt, bis Moderator Christian Ankowitsch eingriff.

Hubert Winkels machte den Anfang. Er habe dem Text gerne zugehört, es sei anders zugehört als gelesen. Etwas von der Ich-Perspektive, in der verschiedene Welten zusammenfließen habe sich in der Art des Vortrags niedergeschlagen, das habe er als angenehm empfunden. Ganz am Anfang des Bachmannpreises gab es den Psychiatrietext, der aus der Mode kam. Die Perspektive eines Ausgeschlossenen, dessen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen man folge.

„Eleganz in der Darstellung“

Eine Scherbe führe hier eine Verletzung zu und provoziert eine traumatische Erinnerung. Innerhalb der Situation gibt es Mark, der Medikamente bekomme. Die Erzählerin bleibe da, sie bekenne sich zu ihrem Dasein. Ihre Fernsehzeit werde beendet mit dem Satz „Jetzt ist es genug“. Zwischendurch übernehme der Körper, wenn die Psyche an ihre Grenzen komme. „Das erscheint mit aus einem Guss zu sein.“ In der ganzen pathologischen Grundsituation gebe es eine Eleganz der Darstellung.

Die Jurydiskussion
ORF/Johannes Puch

Insa Wilke meldete sich als nächste zu Wort, sie sagte, die Autorin habe einen Lesefehler im letzten Satz gemacht, den Wilke beim Lesen auch gemacht hatte. Es heiße „Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist“ und nicht „Meinen Sie nicht, dass es jetzt genug ist.“ Am Anfang des Textes habe sie an einen Systemsprenger gedacht, aber dieses Kind werde einem nur von außen gezeigt. Es habe keine Sprache für sein Inneres. „Beim Fass habe ich an Diogenes gedacht, es gibt viele solcher Symbole im Text. Die Axt, die Scherbe etc.“ Sie finde den Text als machtvoll.

Kastberger kann nichts damit anfangen

Klaus Kastberger sagte, er fürchte, er sei der falsche Leser oder er könne damit nichts anfangen. „Ich werde nervös, wenn ich den Text lese und noch nervöser, wenn er in dieser Langsamkeit vorgelesen werde. Muss jeder Blutstropfen gezählt werden.“ Die forcierte Reihenfolge der Dinge sei ihm zu langsam. „Ich weiß nicht, was das Problem dieser Frau ist. „Über einen Satz habe er sich gefreut, „ich rieche nach Gemüse“, endlich passiert etwas. Zum letzten Satz sagte er, das könne man selbstreflexiv gemeint haben. „Jetzt ist es auch mit dem Text genug“.

Tingler stimmte – wieder – Klaus Kastberger. „Ich kann damit ebenfalls nichts anfangen.“ Es sei ein veraltetes akademisches Literaturmodell mit typischen Zutaten. Für ihn sei es eine abgeschottete Prosa, wo er sich frage, was sei das Problem.

TDDL 2020: Christian Ankowitsch und Carolina Schutti
ORF/Johannes Puch

Wiederstein sah Problem klar benannt

Michael Wiederstein sagte, das Problem werde doch mehrfach benannt. Jemand finde die Sprache nicht. Dass Klaus Kastberger durch das Mäandern nervös werde, das seien Sprachspiele, die in der Person stattfinden. Die Bilder, die von außen kommen, die Metaphern, bedeuten, dass man mit sich nicht fertig werde. „Wer keine Sprache findet, schlägt um sich“. Er glaube, Nadjeschda sei ihr zweiter Vorname und sei selbst finde die Sprache in Österreich nicht. „Ich bin positiv überrascht.“

Brigitte Schwens-Harrant meinte, beim Zuhören sei klar geworden, wie Schutti mit Sprach arbeite. Das Aufzählen habe einen Sinn, es gehe um Ordnung und Regelmäßigkeit, wie erlange die Person Kontrolle. Was sie verfolge, seien die Lungenfische in der Fernsehszene, wie sie in der Wüste überleben. Es geht um das Überleben der Person. Es gebe starke Bilder, wie man sich fühlt, wenn die Haut zusammengeknotet werde. „Ich finde, dass sie sehr gut gearbeitet hat“. Es rege zum Nachdenken an, was mit Menschen passiere, die Kontrolle brauchen. Der Titel „Nadjeschda“ heißt auch Hoffnung.

„Text eines Überlebungskünstlers“

Nora Gomringer sagte, Überlebungskünstler sei eines der wichtigsten Vokabel im Text. Die Strategie einer Überlebungskünstlerperson werde geschildert. „Es ist ein Zurücknehmen, er kann noch nicht sprechen.“ Es gehe um einen Klinikalltag und sich da selbst zu spüren. Sie habe nicht verstanden was das in der Kindheit passiert sei mit dem Vater, so Gomringer. Die Geschichte fand sie „sehr anstrengend“ und sie sei „ratlos“, aber dankbar für den Vortrag.

Insa Wilke fühlte sich erinnert an Christine Lavant „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, den sie Philipp Tingler empfehle. Beeindruckt sei sie von der Sprache, die Schutti für Gefühlserfahrungen gefunden habe.

Tingler appellierte an Jurykollegen

Tingler sagte, wie schön, dass er dran sei und nicht ins Wort fallen müsse. „Wollt Ihr nicht merken, dass das ein total konventionelles Textmodell ist“, frage er die Jurykollegen. Er sei alarmiert, wenn die Kritik abstrakt werde. Offenbar treffe der Text auf Ohren, die Kunst erwarten. Man nehme aber auf die Sprachebene und die Klischees gar keinen Bezug.

Winkels widersprach, alles habe sich auf die Sprache bezogen. Moderator Ankowitsch griff ein, da es jetzt zwei Ebenen gebe, eine Metaebene von Kritik, innerhalb der Jury und eine Diskussion über den Text. In dieser Konstellation sei das aber schwierig, so Ankowitsch, er bitte um eine Aneinanderreihung der Statements, sonst könnten die Zuschauer nicht folgen.

Klaus Kastberger sagte, natürlich stehe die Jury unter Kritik und äußere die auch untereinander. Zum Text sagte er, er lehne diese Art von Literatur nicht ab. Auch noch im 21. Jahrhundert würde er sie nicht ablehnen. In Richtung Publikum sagte er, man werde im Bewerb noch Texte finden, die das besser machen als der von Frau Schutti. „Ich halte ihn nicht ansatzlos für einen Psychiatrietext. Dann wäre er sehr schlecht.“