Lesung Katja Schönherr
ZDF/SRF/ORF/3sat
ZDF/SRF/ORF/3sat

TEXT Katja Schönherr, D

Katja Schönherr liest auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Ziva“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Rückblickend könnte man sagen, wir hätten uns von dem Orang-Utan-Weibchen nicht provozieren lassen sollen.

Rückblickend könnte man sagen, das Orang-Utan-Weibchen hat uns eine Falle gestellt, und wir sind geradewegs hineingetappt.

Denn ohne die Aktion des Orang-Utan-Weibchens müsste unsere Tochter nicht jeden Sonntagabend ihren Kindertrolley packen, um zum jeweils anderen zu ziehen. Sie müsste nicht absichtlich Dinge bei ihrem Vater vergessen, nur um ihre Eltern noch einmal gemeinsam sehen zu können; für diesen mageren Moment, wenn Alexander die Türe öffnet und ich ihn auffordere, das vermeintlich Vergessene zu holen – den Turnbeutel, die Kuscheldecke, den ersten herausgefallenen Zahn, den zweiten herausgefallenen Zahn, was auch immer.
Ohne die Aktion des Orang-Utan-Weibchens wären wir wahrscheinlich noch das, was man eine „richtige Familie“ nennt.
Trotzdem hege ich keinen Groll gegen Ziva. Vielmehr bin ich ihr aufs Innigste dankbar. Sie hat dafür gesorgt, dass ich noch einmal die Spur gewechselt habe für diese letzten Jahre meines Lebens.

Vielleicht sollte ich schon an dieser Stelle erwähnen: Ich werde nicht alt werden. Meine Mutter ist mit dreiundvierzig gestorben, meine Großmutter ist mit dreiundvierzig gestorben. Wie könnte ich anders, als davon auszugehen, dass das bei mir genauso sein wird?

Nur noch sechs Jahre. Countdown. Ich kaue auf meinen Fingerkuppen herum und reiße mit den Zähnen kleine Hautstückchen ab, wenn ich, so wie jetzt, darüber nachdenke. Meine Finger sehen furchtbar aus.

Weil ich um mein frühes Ende weiß, handle ich oft sehr impulsiv. Alexander meinte einmal, das sei keine Impulsivität, sondern Unberechenbarkeit. Aber ich bleibe dabei: Ich bin impulsiv. Weil ich verdammt nochmal nicht die Zeit habe zu grübeln, Pros und Cons abzuwägen, lauwarme Kompromisse auszuhandeln. Wohlüberlegte Entscheidungen sind etwas für Leute, die lange leben dürfen. Die sich den Luxus leisten können, jede Situation genau zu analysieren, alles von allen Seiten zu betrachten, um schließlich doch nur das zu tun, was ihnen ihr Gefühl schon am Anfang gesagt hat. Ich gebe meinen Gefühlen immer nach. Immer und sofort. Nein, anders: Ich gebe ihnen nicht nach, vielmehr setze ich sie um. Wenn ich Lust bekomme auf schwarze Wände im Schlafzimmer, dann streiche ich die Wände im Schlafzimmer schwarz. Und wenn mir von einem Augenblick auf den nächsten klar wird, dass ich eine Beziehung nicht weiterführen will, dann führe ich eben ihr Ende herbei. In Alexanders Fall hat dafür ein Ausflug in den Zoo gereicht; am fünften Geburtstag unserer Tochter.

An Neles Geburtstagen bin ich immer sehr nervös, nervöser als sonst. Schließlich tickt nicht nur meine, sondern auch ihre Uhr schneller als die der meisten Menschen. Ich habe Nele dann fortwährend als den Teenager vor Augen, der sie sein wird, wenn ich gehe. Ich sehe sie mit Pickeln auf der Nasenwurzel und hellen Härchen in der Achselhöhle, ich sehe sie mit scheinbar über Nacht breiter gewordenen Hüften und einer Wärmflasche auf dem Unterleib. Schon lange führe ich ein Notizbuch mit dem Frauenwissen, das jede Mutter an ihre Tochter weiterreichen sollte. Das werde ich Nele überreichen, bevor ich sterbe. Ich hätte mir von meiner Mutter damals auch so etwas gewünscht.