Meral Kureyshi am Schreibtisch
ZDF/SRF/ORF/3sat
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TEXT Meral Kureyshi, CH

Meral Kureyshi liest auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Adam“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Als es still wird, so still, dass die Gedanken laut werden, der Mund trocken, die Zunge schwer, verlasse ich die Wohnung. Die Mondsichel leuchtet hell im Dunkel des Himmels, so wie ich sie als Kind gezeichnet habe.

Hallo?, rufe ich, meine Stimme klingt wie von weit her und hallt durch die Lauben.

Es antwortet niemand.

Hinter dem Hochsicherheitszaun haben sich die Bären schlafen gelegt, die Kameras überwachen sie. Wenn sie nicht schlafen können, gehen sie im Kreis, als folgten sie ihrer eigenen Spur.

Mein Blick schweift über die Stadt zu den zwei Brücken, über die Dächer bis zum Münsterturm. Wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich oft auf dieser Bank neben den dunkelgrauen Platanen, die Nacht hält die Farben versteckt.

Mit dem kleinen Taschenmesser ritze ich ein Herz in die Sitzbank und komme mir dabei albern vor.

Auf dem Weg ins Museum geht die Sonne auf, ich höre Musik, um die Erinnerung zu fälschen, vergessen kann ich nicht.

Im Aufenthaltsraum des Museums liegt ein Riegel mit Apfelgeschmack auf einem alten Bürotisch. An der Wand hängt ein Poster, auf dem ein weißer Strand abgebildet ist, irgendwo zwischen Palmen und Meer.

Ich trage meinen Namen in die Anwesenheitsliste ein. Den Riegel esse ich heimlich auf der Toilette, die Verpackung lässt sich nicht hinunterspülen, so greife ich mit der Hand nach dem Papier.

Mit Ringen unter den Augen betritt Nikola den Aufenthaltsraum und trägt sich in die Liste ein, er riecht, als hätte er die Nacht durchgefeiert, und legt sich gleich unter der Treppe schlafen. Ich solle ihn nur wecken, sagt Nikola, wenn die Oberaufseherin komme.

Der Schnaps machte den Wind weicher, die Lichter verzogen sich ein wenig zu kleinen oder großen Sternen, auch die Ferne wirkte weiter. Die kleine Stadt schien auf einmal riesengroß, ich konnte mich in ihr verstecken, zwischen Menschen, deren Gesichter verschwammen. Sonst hatte ich Adleraugen, wie Manuel sagte, der kurzsichtig ist. Nicht einmal mit der Brille konnte er die Zahlen von den Buchstaben auf der Anzeigetafel unterscheiden. Wer zuerst erkannte, wann der nächste Bus fuhr, hatte gewonnen. Siebzehn Schritte lag er meist zurück. Er wollte sich die Brille nicht korrigieren lassen, fürchtete, danach noch schlechter zu sehen. Die Augenmuskulatur könne sich an die Korrektur gewöhnen und würde sich nicht mehr anstrengen.

Es gibt neben der Wahrheit auch die Wirklichkeit, sagte Manuel. Ich suchte Nikola an Weihnachten, mitten in der Nacht, zwischen den tanzenden Menschen, stieß sie mit den Unterarmen zur Seite und wischte zugleich ihren Schweiß an meiner Hose ab. Nikola war nicht zu finden, also trank ich einen Rotwein im verrauchten Keller.

Auf dem Weg zur Bar stand Adam vor mir.

Hallo, sagte er.

Hallo, sagte ich.

Wir blieben stehen und schauten uns an. Die Musik war laut, wir mussten schreien, um etwas zu verstehen, und unsere Köpfe berührten sich manchmal. In ein paar Stunden kann ein Fremder zur wichtigsten Person werden, später verwandelt sich derselbe Mensch langsam, über Jahre, wieder in einen Fremden zurück.

Adam folgte mir in die Kälte, draußen bemerkte ich, dass er meine Hand hielt. Auf dem asphaltierten Parkplatz, wo im Herbst der Jahrmarkt in allen Farben blinkt, wo die Karussells sich drehen. Der Schnee fiel das erste Mal in diesem Jahr.

Seine Haut leuchtete im Schein der Laterne, und es roch süß, als er neben mir stand.

Ich kannte sein Lachen nicht, alles war neu an ihm.

Neben uns auf der Brücke hinterließ der Zug eine weiße Wolke, die sich zwischen den Ästen auflöste. Auf der Straße wechselte die Ampel ihre Farben für niemanden.

Adam trägt ein Haus auf seinem linken Handrücken, es ist ein einfaches Haus, gerne würde ich darin wohnen. Das Haus hat weder Fenster noch Türen.

Über das dicke Steingeländer der Brücke hingen wir, und ich ließ meinen Kaugummi ins Wasser fallen. Adam sagte, dass jetzt ein Fisch daran ersticken würde. Der Fluss floss zäh wie Pech in Richtung Meer, als wir auf der Mauer saßen und die Beine baumeln ließen.

Hast du Angst?, fragte ich.

Nein, sagte Adam.

Manuel hätte sich niemals auf die Mauer gesetzt, auch betrunken nicht. Er konnte nicht einmal die Treppe des Münsterturms hochsteigen und kehrte schon nach ein paar wenigen Metern um.

Der Schnee fiel auf die Stadt und machte ihre Kanten rund.

Zuhause legte ich mich zu Manuel ins Bett, der beim Lesen eingeschlafen war.