Jurydiskussion Birgit Birnbacher

Birgit Birnbacher nahm auf Einladung von Stefan Gmünder am heurigen Lesereigen teil. Im Text „Der Schrank“ geht es um eine soziologische Studie, eine an dieser Studie Teilnehmende und das plötzliche Erscheinen eines Schrankes. Die Jury zeigte sich von der Qualität überzeugt.

Die 36-jährige Ich-Erzählerin ist trotz ihrer Ausbildung eher mäßig erfolgreich in Beruf und Privatleben. Die Teilnahme an der Studie über Lebensverhältnisse und Neue Arbeit scheint als willkommene Abwechslung wahrgenommen zu werden. Eher unaufgeregt wird der im Stiegenhaus aufgetauchte Schrank wahrgenommen, bis er schließlich als Geschenk ihrer Mutter erkannt wird.

Birgit Birnbacher

ORF/Johannes Puch

Birgit Birnbacher

Keller „gelungen in jeder Hinsicht“

Hildegard Keller machten den Anfang und meinte dieser Text sage, er handle von uns allen, weil er von Arbeit handle, die uns definiere. Sie finde den Text „gelungen in jeder Hinsicht“. Er sei eine Mikrostudie der Lebensverhältnisse, man begegne Zynismen, keine Arbeit sei die neue Arbeit. Durch großartigen Charme könne man an den Figuren teilnehmen. „Wirklich gelungen.“

Tag zwei

ORF/Johannes Puch

Keller, Winkels

Dem schloss sich auch Michael Wiederstein an. „Menschen die Recht haben, schreiben schlechte Bücher“, zitierte er Tschechow, aber Birnbacher wolle gar nicht Recht haben. Es gehe um Studien über Menschen und Studien der Autorin über Menschen. Der Text habe eine starke Empathie den Figuren gegenüber, die geradewegs gezeichnet werden. Die Figuren seien gut charakterisiert, die Straßenbahn fahre woanders – „fantastisch“. Durch die Kombination von Humor und Empathie sei der Text gelungen.

„Unglaublich schöne Momente“

Insa Wilke widersprach insofern, dass es ihrer Meinung nach durchaus schon solche Texte gegeben habe und Birnbachers „Der Schrank“ nicht der erste mit diesen Qualitäten sei. Es gebe hier „unglaublich schöne Momente“, man merke, „da wird ein neues Leben möglich“, die kleinen Gesten seien „magisch“.

Hubert Winkels konterte, er erkenne überhaupt keine Empathie den Figuren gegenüber. Sie seien kafkaesk gezeichnet. Der Schrank sei das Störelement in der Ordnung, er zeuge davon, dass das Mutter-Tochter Verhältnis nicht ideal sei. Die Störung der Ordnung werde von einem überwachenden Auge bemerkt, die Erzählerin verschwinde im Schrank. Der Text sei gut gemacht, aber die Aussagen über soziale Prekarität seien minimal, „überhaupt keine Zwecksetzung“.

Tag zwei

ORF/Johannes Puch

Klaus Kastberger

Referenz zu Bachmanns Malina

Klaus Kastberger erklärte, man müsse die Referenz auf Bachmanns Malina erkennen, die in der Wand verschwinde. Der Text komme „zu einem platten Ende“. Der Text von Othmann zeige, das Erzählen basiere darauf, dass etwas Großes erzählt werde. Dieser Text mache sich hingegen klein, diese Haltung sei spannend. Es geschehe „fast gar nichts“, es sei ein minimales Ereignis, dass plötzlich ein Schrank auftauche. Das gefalle ihm gut. Ilse Aichinger habe auch derartige Mechanismen in ihren Texten verwendet. Natürlich sei das ein Spiel, „aber das ist eine ideale Sache“. Der Text sei auch aufgrund der Referenzen auf Bachmann passend für diesen Bewerb. „Ein toll zu lesender Text, über den man mehr sagen könnte.“

„Text kann sich klein machen, weil er so groß ist“

Stefan Gmünder fasste zusammen, „der Text kann sich so klein machen, da er so groß ist.“ Er habe nicht das Gefühl, dass es plakativ sei, wenn man auf eine Nummer reduziert werde. Der Beobachter beobachte den Untergang. „Äußerst fein gemacht“ seien die Anspielungen auf eine spezifische Zeit.

Hildegard Keller betonte noch einmal, dieser Text handle von uns allen. Ein Individuum und dessen Reaktionen werden gezeigt. Birnbacher wisse, wovon sie schreibe. Die Zynismen in dem Text seien „super“. Der Schrank sei der Anlass, worum es gehe, sei hingegen etwas Universales.

Tag zwei

ORF/Johannes Puch

Wilke meinte, natürlich spiele die Ökonomie eine Rolle, aber es gehe auch ums Wohnen. Die Erzählerin sei auf wunderbare Weise resignativ. Die Frage, wo die Empathie liege, die Winkels gestellt hatte, sei gut. Sie finde sie in der Ambivalenz, das sei das Menschliche im Text und das was die Empathie ausmache.

Wiederstein sagte, der Text sei alles andere als fatalistisch, und ortete auch moralische Fragen darin. Die Erzählerin reflektiere bewusst, dass sie scheitere. Auch daraus gewinne der Text seine menschliche Note.

„Ein wunderbares Spiel mit der Ordnung“

Winkels erläuterte, er lese den Text über die Funktionselemente und die Struktur. Die ganze Welt, in der die Leute leben, könne auch vor hundert Jahren funktionieren. Der Staat übe eine Kontrolle über die Leute aus, wichtig sei, dass jemand umgekippt sei. Der Beobachter müsse Irregularien feststellen. Der umgekippte Bote und der Schrank seien Störfaktoren. Der Text ergebe ein wunderbares Spiel mit einer Ordnung, in der wir alle stecken und die wieder hergestellt werden müsse. Wenn man einen besten letzten Satz finden müsse, würde er diesen hier wählen: „Ich möchte singen.“

Laut Kastberger sei der Text „viel cooler“ als viele andere. Auf ein Musikvideo Bezug nehmend, erklärte er, das Bild des Schrankes und das Verschwinden darin sei ein unheimlich tolles Bild.