Jurydiskussion Sarah Wipauer

Die Wienerin Sarah Wipauer wurde von Klaus Kastberger eingeladen und las ihren Text „Raumstation Hirschstetten“. Er dreht sich um Gespenster, historische Persönlichkeiten und eine Raumstation angesichts des Todes. Es gab zurückhaltendes Lob der Jury.

Der Text handelt vom Kinderarzt Clemens von Pirquet, seiner Frau Maria Christine und seinem Bruder Guido. Als Tote in Gespensterform finden sie sich in einer Raumstation im Weltall ein. Im Mittelpunkt steht die vom Tod verursachte Irregularität des Lebens. Zu Beginn der zweiten Diskussion des Tages meldete sich nach kurzem Zögern Juror und Juryvorsitzender Hubert Winkels zu Wort. Man habe hier eine Parallele zum ersten Text des Tages, die Gespenster seien wie Chimären.

Lesung Sarah Wipauer

ORF/Johannes Puch

Sarah Wipauer während der Jurydiskussion

Ein Kind ist gestorben

Wenn etwas nicht ordnungsgemäß beerdigt werde, erläuterte Winkels, würden Gespenster entstehen. Man erfahre klar, jedoch am Rande, dass ein Kind gestorben sei, wonach es zu einem Doppelselbstmord aus Trauer komme. Der Text mache etwas sehr Kluges, da die Weltraumphantasie des Bruders Guido mit dem Realen verschmolzen werde. Der Text sei gut gemacht, er erzähle den Rahmen der Erzählung mit.

Lesung Sarah Wipauer

ORF/Johannes Puch

Insa Wilke

Insa Wilke widersprach Winkels, ihrer Meinung nach gehe es nicht um den Tod des gemeinsamen Kindes. Ihr sei vor allem der Satz „Er bohrt mir alle Kinder an“ aufgefallen. Sie spekulierte darüber, wie Daniel Kehlmann diese Geschichte weiterspinnen könnte. „Raumstation Hirschstetten“ sei kein harmloser Text. Winkels erklärte, er begreife die Frau als Zentrales Element, die sich gegen die Gesellschaftsordnung und die von der Gesellschaft vorgegebene weibliche Rolle sträubte.

„Gewisse Skurrilität“

„Untote österreichische Blaublüter okkupieren die ISS“, fasste Juror Michael Wiederstein zusammen. Laut ihm sei das Spannende das Setting des Texts, das eine gewisse Skurrilität entwickeln würde. Der Text sei gelungen, jedoch sei er nicht skurril genug erzählt und schaffe auf formaler Ebene keinen Sog. Das am häufigste wiederholte Wort in diesem Text sei das Wort „vielleicht“, das sei in seinen Augen „ein literarisches Unwort“.

Lesung Sarah Wipauer

ORF/Johannes Puch

Michael Widerstein

Jurorin Nora Gomringer hingegen brachte ein, die Personen aus den 20ern und 30ern in der Raumstation seien sprachlich gut dargestellt. Maria Christine hätte eine Existenz wie viele andere Frauen gelebt, schaffe es aber, ein Loch zu bohren.

Stefan Gmünder bekannte, er habe Gespenster immer gemocht, sie hätten hier aber eine andere Funktion. „Sehr genial gemacht“, so sein Urteil. Die Kühe in Arztform seien ein Running Gag, formal würde in diesem Text alles sitzen.

Lesung Sarah Wipauer

ORF/Johannes Puch

Klaus Kastberger

„Erzählt wie Wikipediaartikel“

Gattungstechnisch sei dieser Text das „pure Gegenteil“ des ersten Texts des Tages, bemerkte Klaus Kastberger. Das Simple sei „die Trägerrakete, der Trägerstoff“, die irrsten Dinge würden erzählt werden wie ein Wikipedia-Artikel. Die Frau gelte als verrückt, das Zusammenleben der Eheleute führe zum Selbstmord. Clemens bohre Kinder an, Maria bohre die ISS an, das finde er lustig. Er erinnerte sich aber auch an den Philosophen Hans Blumenberg, der sich Gedanken über den Fortschritt in der Menschheitsentwicklung gemacht habe.

Lesung Sarah Wipauer

ORF/Johannes Puch

Hildegard E. Keller

Die Menschheitsgeschichte sei laut ihm eine Geschichte des Scheiterns, eine Aneinanderreihung von Schiffsbrüchen, die etwas hinterlassen würden. So sei es auch mit der ISS. Der Text lasse sich weiterspielen und habe die Perspektive, alles mitzudenken. In Kastbergers Augen gehe er weit über das Simple, Sagenhafte hinaus.

Keller kam zunächst nicht zu Wort

Hildegard E. Keller fühlte sich „etwas angebohrt“, nachdem sie sich schon länger zu Wort melden wollte. Sie sei vor allem an der Gespenstwerdung hängen geblieben, dies sei nämlich kein monokausales Geschehen. Man stecke sich am Gespenstsein an, die Durchsichtigkeit erinnere sie an die Animationsgeschichte „Coco“. Das Ungleichgewicht der drei Textteile sei interessant, zunächst sei die Guido-Geschichte von Relevanz, danach die Maria-Geschichte. „Es ist anregend“, aber sie frage sich, ober der Text als Ganzes rund genug sei.

Widerspruch von Wilke zu Kastberger

Insa Wilke nahm nochmals auf das Visionäre Bezug und widersprach Kastberger. Das Ehepaar würde Selbstmord begehen, da man in der Gesellschaft, so wie sie sei, nicht leben könne. Das Ende der Geschichte liefere Gründe für die Entstehung von Gespenstern, der Anfang behaupte aber, Gespenster entstehen durch Zufall. Der Text sei nicht richtig anarchisch, aber auch nicht diszipliniert. Sie habe das Gefühl, die Autorin habe Spaß daran, es genauso zu machen.

Winkels meinte, die Frau antworte mit dem Loch auf die Fülle, man könne es als Rache des Gespensts an der Vergangenheit deuten, die sie zum Gespenst gemacht habe. Der Rahmen des Geschehens werde ständig erklärt, die Semitransparenz sei ein wesentliches Thema. Langsam werde eine Umgebung geschaffen, die zum Schluss wieder „abfallfrei entsorgt“ werde.

Wiederstein stellte fest, Maria würde auch als Gespenst noch einmal versuchen, Selbstmord zu machen, woran sie scheitere. Seine Wikipedia-Recherche habe ergeben, die historische Maria sei erkrankt und ihr Mann habe sie nicht retten können.

Winkels entgegnete, man solle nur mit dem Text arbeiten.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Stefan Gmünder

„Die Frage ist, woher kommt dieses Loch“, äußerte Gmünder. Das würde man nun wissen, antwortete Kastberger. Er glaube nicht, der Text beraube sich der Möglichkeiten, in ihm würde Energie stecken. Viel von seiner Dynamik rühre daher, dass es ein erklärbarer Text sei. Der Witz brauche die Form der Zurückhaltung. Dem stimmte Winkels zu, meinte aber auch, der Text sei an sich schon lustig.