Rede zur Literatur „KAYFABE UND LITERATUR“

Clemens J. Setz hielt die Rede zur Literatur am Eröffnungsabend. Der Titel: „KAYFABE UND LITERATUR“. Hier können Sie die Rede nachlesen.

Meine Damen und Herren,

ich möchte mit Ihnen gerne über Wrestling sprechen. Keine Angst, ich habe mir das gut überlegt. Der Anlass, das heißt die Anwesenheit so vieler Menschen aus Literatur und Politik in einem Raum, ist dafür geradezu ideal.

Einige von Ihnen werden bestimmt schon einmal die Namen Hulk Hogan, John Cena, The Rock oder André the Giant gehört haben, oder Sie kennen vielleicht den hypnotischen Film The Wrestler von Darren Aronofsky. Aber auch wenn Sie keine Kenntnisse dieser Art haben, ist das Prinzip von Wrestling schnell erklärt: Es handelt sich um einen Sport, bei dem Menschen in einem Ring gegeneinander antreten; allerdings wird der Ausgang des Kampfes vorab festgelegt, Sieg oder Niederlage sind Teil einer von unsichtbarer, aber kompetenter Schreiberhand verfassten Storyline – und die eigentliche Leistung der Wrestler besteht in der akrobatischen Darbietung der vereinbarten Manöver und der schauspielerischen Überzeugungskraft. Ihr Metier ist körperlich enorm fordernd und zerstörerisch, aber ihre Verletzungen gleichen eher denen von Stuntleuten oder Zirkusartisten als denen von Boxern oder MMA-Fightern.

Eröffnung Clemens Setz

ORF/Johannes Puch

Clemens J. Setz mit der gedruckten Rede

Im Herzen der Wrestlingwelt wohnt ein Begriff, der uns, dem Literaturvolk, paradoxerweise mehr über das zu erzählen vermag, worum es in den nächsten vier Tagen hier gehen wird, als alle anderen Begriffe, die ich mir denken kann, mehr über das Geschichtenerzählen an sich und dessen Verhältnis zum persönlichen Alltag und zur politischen Realität und sogar mehr über die Rollenbilder, in die wir, vielleicht von übergeordneten Instanzen, schon seit der Geburt gezwungen wurden. Es ist ein Begriff, der, wenn man ihn erst einmal erlernt hat, sofort zu einem unvermeidlichen und essentiellen Werkzeug der Weltwahrnehmung wird: Kayfabe.

Die Etymologie dieses Wortes ist unbekannt. Kurz gesagt, bedeutet es so viel wie »Wahrung der Vierten Wand« – nach der sogenannten Vierten Wand im Theater, also der unsichtbaren Barriere zwischen Schauspielern und Publikum – oder auch »Wahrung der suspension of disbelief«. Das heißt: Wrestler dürfen niemals aus ihrer Rolle fallen, nicht einmal, so zumindest der Idealfall, wenn sie allein sind. Reale Freundschaften unter fiktiv verfeindeten Kollegen sind untersagt oder werden streng reglementiert. Das Prinzip Kayfabe wird in den großen Wrestlingverbänden zum Teil so dogmatisch umgesetzt, dass viele Profiwrestler in ihrem privaten Leben die vom Management über sie verhängte Persona wie selbstverständlich weiterspielen und sogar ausbauen. Sie vergessen nach und nach ihre Taufnamen und denken und sprechen über sich nur noch mit ihrem stage name, ähnlich ihrem großen Vorfahren aus alter Zeit, dem Don Quijote de la Mancha, der ja eigentlich der Señor Alonso Quijano war.

Wrestlercharaktere gehören jeweils einer von zwei Kategorien an: heels oder faces. Heels sind böse und hinterhältig, faces sind gut und edel. Fast immer treten bei Turnieren heels gegen faces an. Bret »The Hitman« Hart etwa gilt als ein Musterbeispiel für einen face-Charakter. Der Kampf des Guten gegen das Böse ist die ewige Erzählung des Wrestling, ganz ähnlich wie in der Weltliteratur, und Kayfabe ist der Klebstoff, der alles im Innersten zusammenhält. Bevor wir erfahren, was dies alles mit Literatur, Lebensführung, dem Ingeborg-Bachmann-Preis, mit Selbstachtung und Politik zu tun hat, hier einige Beispiele für die oft verblüffende Machtübernahme von Kayfabe im realen Leben eines Menschen:
Die Wrestler Matt Hardy und Edge waren im wirklichen Leben beste Freunde. Matt Hardy war mit der Wrestlerin Lita liiert. Allerdings verliebte sich Lita in Edge, verließ Matt Hardy, und dieser war verzweifelt. Von den Autoren der WWE wurde dieses reale Beziehungsdrama sofort in eine fiktive Storyline verwandelt, in der es zu einer gescripteten Konfrontation kam und Matt Hardy gegen seinen Rivalen Edge im Ring antreten musste. So stand Hardy vor der sonderbaren Situation, einen Mann, den er real hasste, auch auf fiktiver Ebene zu hassen und ihn, den er tatsächlich gern verletzt hätte, nur scheinbar zu verletzen und in Wirklichkeit durch professionelles Verhalten im Ring vor Verletzungen zu bewahren. Es sind schon Menschen infolge geringerer geistiger Zerreißproben verrückt geworden.
Ähnlich verwirrend ging es bei der Heirat zwischen Triple H und Stephanie McMahon zu. Zuerst wurden die beiden innerhalb der fiktiven Wrestlingwelt verheiratet, und dann, im Jahr 2002, gefiel es den Schreibern, die Beziehung unter dramatischen Umständen zu beenden. Das Paar lebte allerdings, da es sich zufälligerweise auch real verliebt hatte, weiterhin im Geheimen zusammen und wollte 2003 nun tatsächlich heiraten. Der Priester aber weigerte sich, die beiden zu trauen, da er die fiktive Wrestlingheirat des Paares im Fernsehen gesehen hatte. Wikipedia schreibt dazu den entzückenden Kommentar: »McMahon later had to explain to the priest the difference between WWE programming and real life.«

In einem anderen Fall erschlich sich ein Wrestler namens Pillman eine günstige Entlassung aus seinem Vertrag inklusive Abfertigung. Er schlug vor, dass die Kayfabe besonders glaubwürdig erschiene, wenn seine Vorgesetzten ihm innerhalb der Storyline einen echten Kündigungsvertrag zufaxen würden. Diesen unterzeichnete er, brachte ihn zum Notar und erhielt im realen Leben, was ihm nur in der Fiktion zugestanden worden war.
Das berühmteste Beispiel für lebendurchsetzende Kayfabe aber findet sich vermutlich im schon erwähnten Roman Don Quijote von Cervantes – einem der ausgelassensten und prächtigsten, die je einem Menschen geglückt sind. Denn darin, und zwar im zweiten Teil der Geschichte, wird festgestellt, dass die Figuren, sowohl Haupt- als auch Nebenfiguren, den ersten Teil gelesen haben. Wie kann das sein? Es entsteht ja eine seltsame Schleife, wenn Figuren zugleich Erlebende und Leser ihrer selbst werden, wie auch im ähnlich berühmten Beispiel der 602. Nacht aus den Geschichten aus 1001 Nacht, in der die allnächtlich um ihr Leben erzählende Scheherazade dem kindlich nimmermüden und mordlüsternen König plötzlich ihre eigene Rahmenhandlung, und das auch noch mit identischen Worten, zu erzählen beginnt; also jene Geschichte, in der sie selbst vorkommt und auch der böse König, der alle Frauen im Land umbringt, bis ihn eine durch ihr hypnotisches Erzählen von seinem mörderischen Vorhaben ablenkt und mühsam über Jahre umstimmt – man stelle sich die seltsame Endlosschleife vor, die durch ein solches riskantes Erzählmanöver in die Wirklichkeit gedrängt wird. Eigentlich ein Wunder, dass beide, Scheherazade und der König, diese 602. Nacht überstehen.

Bei Wrestlern zeigt sich die absurde Endlosschleife, in der sie gefangen sind, in vielen Fällen so, dass gute und edle Charaktere sich nach ihrer Karriere im privaten Leben der Philanthropie, der Drogenprävention und dem Fitnesstraining zuwenden, während solche, die ihre ganze Laufbahn hindurch böse Figuren spielen mussten, auffallend häufig in Kalamitäten wie Alkoholabhängigkeit, Mafianähe oder gar in Gewaltverbrechen verwickelt werden.
Manchmal führt die militante Einhaltung von Kayfabe, die Vermischung von Fiktion und Realität, sogar zu echter Lebensgefahr oder Tod. So standen etwa die Macher des Disney-Films White Wilderness, in dem der Massenselbstmord von Lemmingen vorkommen sollte, vor einem Problem: Lemminge begehen gar nicht Selbstmord. Es handelt sich bei dieser Geschichte um genau das: eine Geschichte, irgendwann vor langer Zeit festgelegt von kompetenter Schreiberhand. In der Realität wurde ein solches Verhalten niemals beobachtet. Schließlich kauften die Filmemacher einigen Inuit-Kindern ein paar Lemminge ab und stellten diese an eine Klippe. Die Fiktion, deren Befehlsstachel diese Filmmenschen in ihrem Inneren spürten und um deren erfundene Natur sie sehr wohl wussten, war so stark, dass sie ferngesteuert nach ihr handelten. Mithilfe einer rotierenden Plattform, die im Film unsichtbar blieb, ließen sie die Tiere von der Klippe in die Tiefe purzeln und filmten ihren Sturz ins Wasser. Der Dokumentarfilm erhielt 1958 einen Academy Award.

Und als der große kenianische Dichter Ngugi wa Thiong’o im Jahr 1986 seinen nach der Hauptfigur benannten Roman Matigari veröffentlichte, befahl der damalige Diktator Kenias, Daniel arap Moi, die sofortige Festnahme der Figur Matigari, weil diese auf den Seiten des Romans staatsgefährdende Fragen stellte. Nach langer Suche, zahlreichen Verirrungen und Fehlzündungen wurde schließlich doch der Autor verhaftet. Er kam in das Kamiti Maximum Security Prison, wo er auf Gefängnisklopapier den Roman Der gekreuzigte Teufel schrieb. Unfreiwillige Kayfabe, eingeleitet durch die erzählerische Strahlkraft eines begnadeten Autors.
Hat man sein Auge einmal dafür sensibilisiert, sieht man blühende Kayfabe plötzlich überall, etwa in K-Pop-Gruppen oder Boybands, deren Mitglieder häufig ihre realen Lebenspartner heimlich treffen müssen, um für die sie hautnah umzingelnden Fans die Fiktion immerwährender Verfügbarkeit aufrechtzuerhalten, oder auch in der äußerst bizarren Videonachricht, die der Schauspieler Kevin Spacey, einen Tag bevor er sich vor einem realen Gericht gegen sehr massive Missbrauchsvorwürfe zu verantworten hatte, auf Youtube veröffentlichte. Er äußert sich darin zu den real erhobenen Vorwürfen nicht als er selbst, sondern als die von ihm über Jahre verkörperte Figur Frank Underwood. Oft springt er sogar innerhalb eines einzigen Satzes zwischen der eigenen Identität und der Underwood-Rolle hin und her, z. B. »what I did do and got away with [Underwood] and what I didn’t do [Spacey]«. Klassische Kayfabe, die hier bereits in ein nicht mehr steuerbares Zombiestadium gekippt ist. (Wie merkwürdig muss es übrigens erst für den Autor der Underwood-Figur, den Dramatiker Beau Willimon, sein, seine Figur auf diese bedenkliche Weise weitergeschrieben zu sehen.) Eine solche tragische, roboterhafte Vermischung von Fiktion und Realität ist immer ein Zeichen für zweierlei Verirrungen: übergroße Macht und Isolation – und, meist damit einhergehend, fehlende Selbstkritik und ein nachlassender, sich selbst allmählich zersetzender Verstand.
Was mich zum extremsten Beispiel zeitgenössischer Selbstverwechslung bringt. Um die Weihnachtszeit erschien ein Werbeclip auf Youtube, in dem Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache sich selbst spielt. Die Storyline: Ein Ehepaar wird nachts von Geräuschen im Haus geweckt. Die beiden stehen auf, sie entdecken den Vizekanzler in ihrem Wohnzimmer, verlangen von ihm eine Erklärung. Er bringe ihnen ein Weihnachtsgeschenk, beteuert Strache. Und zeigt es dem Ehepaar draußen vor dem Haus: Es ist die Stille. Das Pärchen begreift zuerst nicht. Es sei jetzt so ruhig, erklärt Strache, weil die FPÖ alle Fremden aus dem Land geworfen habe.
Seit ich diesen Clip gesehen habe, bring ich, um ein Nestroywort zu gebrauchen, »die Zukunft nimmer ausm Sinn«. Diese Verschmelzung von spielerisch augenzwinkernder Brutalität mit realer Macht ist die bizarrste Ausformung der Kayfabe, gedacht als Absicherung der eigenen Macht und Zementierung einer dem Volk verabreichten Weltanschauung, aber zugleich immer auch das erste Anzeichen einer bevorstehenden Selbstauflösung. Es ist ein, sozusagen, vorauseilendes letztes Lebenszeichen eines bereits an sich selbst zugrunde gehenden Systems. Denn ab einem gewissen Zeitpunkt werden alle von Einschließung und Ausgrenzung durchdrungenen Machthaber selbstähnlich, spielen sich nur noch selbst, verheddern sich in Rückkopplungsschleifen, und mit etwas Glück kann man ihrer Zersetzung live beiwohnen. Den Rechtsradikalen und Rechtspopulisten, die nun überall in Europa langsam ihre Faust um wichtige Institutionen zu schließen beginnen, kann man getrost die Mitteilung machen: Natürlich werdet ihr verschwinden. Make no mistake. Man sieht euch bereits an den Rändern flackern. Euer System ist ein geschlossenes, und wie alle geschlossenen Systeme erstickt es irgendwann an sich selbst, verirrt sich in den beschriebenen strange loops der Kayfabe und der Selbstverwechslung. Ihr wisst gar nicht mehr, wer euch schreibt. Da hilft es auch nicht viel, wenn sich, wie im Fall des österreichischen Bundeskanzlers, ein junger, energiegeladener Erklär-Bär für euer System gefunden hat.

In milderer Form kenne ich diese leicht prognostizierbare Zersetzung aus eigener Erfahrung. Als ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, las ich keine Romane, sondern nur Bücher über Verschwörungstheorien: Freimaurer, Nazi-Ufos, Bilderberger, Viktor Schauberger, Thule-Gesellschaft, Jan van Helsing und so weiter. Ich war von meiner Lieblingsserie Akte X sozusagen rekrutiert worden. Ich war ein perfektes Beispiel für gelebte, ferngesteuerte Kayfabe. Wäre ich heute noch in dieser Phase, würde ich vermutlich andauernd das Wort Lügenpresse im Mund führen, hätte fantasievoll blühende Ansichten zu George Soros, zum Klimawandel und zu Impfungen, zu Julian Assange und Alex Jones und würde im österreichischen Quasi-Staatsmedium unzensuriert.at jeden Tag nach Bestätigung meiner »alternativen Fakten« suchen. Für mich äußerst schwachen und unreifen jungen Mann war es damals das Wichtigste, insgeheim mehr zu wissen als meine Umwelt. Das war die Hauptsache. Dabei war das bloß die Rolle von Agent Fox Mulder in Akte X. Dabei wusste ich anfangs noch, dass es Fiktion war, dann erst wuchs ich in die Rolle, und, bumm, schon war da eine Persönlichkeit und eine Weltanschauung. Fucking Kayfabe.
Es dauerte etwa ein Jahr, bis dieses Gift meinen Körper verließ. Ähnlich lang dauerte es übrigens, bis ich mir, etwa im Alter von zehn Jahren, vor mir selbst eingestehen konnte, dass Wrestling nicht real war.

Wir alle, Sie und ich: Autorinnen und Autoren, Freundinnen und Freunde der Literatur, Jurorinnen und Juroren, Kritikerinnen und Kritiker, haben ständig mit mehr oder weniger differenziert ausgearbeiteten Storylines zu tun. Fiktive Charaktere, Wendepunkte, Suspense, Inszenierung – all das ist unser Metier. Den Großteil der Storylines produziert aber nicht die Literatur, sondern sie werden von Firmen, Marketing-Agenturen und von der Politik verfasst. Und wir, die wir uns mit Literatur befassen, haben genau das jahrelang studiert: Storylines. Wir sind trainiert, sie zu erkennen. Wir wissen ganz genau, wie das geht, wenn uns zum Beispiel das Eigene fremderzählt wird. Wir können auf ähnliche Fälle in der Vergangenheit zurückgreifen, etwa auf die frühe Kayfabe-Parabel, die uns der große Anton Kuh im Jahr 1930 berichtete, als er bei einem Besuch der deutschen Stadt Halle entdeckte, dass deren Bürger allesamt dieselbe rübenartige Schopffrisur trugen, mit der sie unfroh durch die Straßen liefen. Sie sei, so vermutete Kuh, »Ersatz für den Tschako. Oder in einer anderen Formel: jeder Kopf sein eigener Sturmhelm. So tragen im Italien Mussolinis viele junge Leute statt einer Frisur einen Turm.« Später gelangt er zu der Einsicht, nicht die Form, sondern die Künstlichkeit an sich sei das Eigentliche dieser beklemmenden Mode: »Diese Erfindung eines deutschen Kleinstadtfrisörs, die eigenen Haare als Perücke zu tragen, sei von tiefer, umfassender Symbolkraft. Hier bekunde sich die letzte Errungenschaft des politisierten Menschen: alles Eigene zum Fremden, alles Lebendige tot zu machen.«

Auch in der Schriftstellerzunft walten bis heute einige höchst sonderbare und lebensverkehrte Kayfabe-Regeln, die sich irgendein an Bosheit dem Frisör von Halle durchaus ebenbürtiger Gauner einmal ausgedacht haben muss. Etwa die Ansicht, dass man sich monatelang wegsperren müsse, um schreiben zu können. Dass »der Dichter«, störungsängstlich wie der Boden eines Unibibliothekslesesaals, vom Lärm der Welt bewahrt werden müsse etc. Als wäre das Formulieren deutscher Sätze so unendlich schwierig, dass man dafür Ruhe braucht! Als wäre es nicht lebensnotwendig, bei allen Tätigkeiten regelmäßig von der Menschheit unterbrochen zu werden. Als wäre Geschichtenerzählen nicht die von Natur aus geselligste Tätigkeit überhaupt. Als wäre es nicht fürsorglich, unseren Mitmenschen so viele Geschichten abzuluchsen wie möglich und sie so, zumindest eine Zeitlang, vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Verdammt nochmal. – Fast täglich hat man Gelegenheit zu studieren, was mit denen geschieht, die diese Prinzipien vergessen. Sie sitzen in Kammern, entwickeln dort ihren Stil, als wäre es ihr Charakter, verlieren sich jahrelang in Aufenthaltsstipendien, und dann wachen sie eines Tages auf und sind Dichter, wie aus dem Schullesebuch. Ihre eigenen Kinder stören sie. Sie verlangen nach staatlicher oder privater Förderung. Sie verheben sich an jeder Verantwortung. Sie ziehen nach Berlin.
Die lächerliche Kayfabe der Dichteridentität habe ich selbst besonders hündisch befolgt in meinen jungen Jahren. Vielleicht neigt meine Seele ja allgemein dazu, immer wieder in derlei bereitstehende Hohlformen zu fallen, um sich dann, Jahre später, mühevoll daraus freiknabbern zu müssen. Und wer weiß, möglicherweise wird es gerade dieser fatalen Neigung anzulasten sein, wenn ich in naher Zukunft, während das bei uns losgeht, was wir später als die Pogrome unserer Zeit erkennen werden, noch immer seelenruhig Hasen- und Ziegenbilder auf Twitter posten werde.
Möge mir, möge uns, wenn die Zeit kommt, eine ähnlich aufgeklärt schamfreie und hellsichtige Selbsterkenntnis vergönnt sein, wie sie einer meiner kleineren Hausgötter, der amerikanische Dichter Robinson Jeffers, besaß. Eines seiner Gedichte handelt von einem bestimmten Tag, dem 19. September 1939. Jeffers hört am Morgen im Radio Hitler in Danzig brüllen, später am Tag gibt es ein leichtes Erdbeben und abends versinkt ein blutroter Mond im Meer bei Big Sur. Und dann Jeffers’ bemerkenswerte Einsicht: »Well: the day is a poem: but too much / Like one of Jeffers’s, crusted with blood and barbaric omens.« Der Tag gleicht zu sehr einem Gedicht von ihm selbst, und er ist angewidert, fühlt sich ertappt, sozusagen von der Weltgeschichte mit sich selbst kurzgeschlossen.

Ein mehrtägiger Event wie die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sieht von außen zwar vielleicht aus wie ein wrestlingartiges Ereignis, ein Kampf nicht Gut vs. Böse, sondern Gut vs. Schlecht, ein Royal Rumble sozusagen, bei dem die Konkurrenten nach und nach aus dem Ring geworfen werden, bis am Ende einer siegreich übrig bleibt, aber das ist ein unvollständiges, falsches Bild. In Wahrheit ist der Bewerb ein für kurze Zeit hochtourig laufendes Fabriklein, das einen konzentrierten Datenstrom aus Fiktionen produziert, die, so wollen wir es uns wünschen, ihre vorübergehenden Trägerseelen heil lassen, die niemanden rekrutieren, abrichten oder verschicken wollen und die womöglich das in unseren Ländern vielleicht schon in naher Zukunft allmählich wiedererwachende Schamgefühl erheben und einbetten können in sinnvolle Zusammenhänge. Fiktionen, die, selbst wenn man sie gnadenlos ernst nimmt, den Geschöpfen ihre Mündigkeit belassen, auch wenn diese noch so sehr und so beharrlich nach dem Gegenteil verlangen.
Ich wünsche den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wie auch der Jury und allen Kommentierenden: frohes Erzählen. Wir werden sehen, in was es uns für die Dauer dieser Tage verwandeln wird.

Haben Sie vielen Dank.

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